Persönliche Gesundheit

Operation Krebs: So stark entscheidet die Qualität der Krankenhäuser über Leben und Tod

An einem Samstag Ende August 2013 wacht Isabell Deutsch um vier Uhr morgens mit Bauchkrämpfen auf. Nicht so schlimm, denkt die damals 31-jährige Krankenschwester, könnte mit der Regel zusammenhängen. Seit einem Jahr kennt sie diese Beschwerden. Sie harrt kurz im Bett aus und macht sich dann auf zur Frühschicht. Doch um zehn Uhr vormittags muss sie aufgeben. Den Rest des Tages verbringt sie gekrümmt auf dem Sofa. Ihre achtjährige Tochter steht oft bei ihr, den Blick voll Sorge. Und die Krämpfe nehmen unerbittlich zu. Bald fühlt es sich an, als ob jemand ein Messer in ihrem Bauch herumdreht. Um ein Uhr nachts sagt Isabell Deutsch zu ihrem Mann: „Ich muss in die Klinik!“ Notaufnahme des Krankenhauses Fürth. Computertomografie. Blutentnahme. Notoperation.

Die Gynäkologen finden Verwüstungen im Unterbauch. Ein großes Tumorgebilde unklarer Herkunft. Bauchfellentzündung, ein gerissener Eileiter. Sie nehmen Gewebeproben. Zwei Tage später herrscht Klarheit: Im Dickdarm wuchert ein großes Geschwür, es ist durch die Darmwand gebrochen, hat sich im Bauchfell ausgebreitet und den rechten Eierstock befallen. Bauchfellkrebs ist ein häufiges Spätstadium von Tumoren im Bauchraum wie Darm-, Magen- oder Eierstockkrebs, an dem jährlich etwa 20.000 Menschen erkranken.

Eingriff in Regensburg: das Team um Chefarzt Pompiliu Piso bei seiner anspruchsvollen Arbeit

Die Krankenschwester verdankt ihr Überleben vor allem der Kunst eines Chirurgen

In vielen deutschen Kliniken wäre Isabell Deutschs Leidensgeschichte wohl rasch zu Ende gewesen. Die Patienten leben durchschnittlich noch etwa ein halbes Jahr. Man hätte der jungen Frau eine „palliative Chemotherapie“ verabreicht, die nicht heilen, sondern nur das Ende hinauszögern kann. Doch Isabell Deutsch lebt. Sie ist tumorfrei. Ein Wunder? Vielleicht. Aber eins, dem nachgeholfen wurde – es tritt laut Studien bei 30 bis 50 Prozent der Patienten ein, deren Bauchfellkrebs mit einem Verfahren behandelt wurde, das wenig bekannt ist, obwohl es bereits 1989 erfunden wurde. Die Krankenschwester verdankt ihr Überleben vor allem der Kunst eines Chirurgen, der dieses Verfahren beherrscht. Er arbeitet an einem von insgesamt nur zehn zertifizierten Zentren für Peritonealkrankheiten (Bauchfellerkrankungen).

Isabell Deutsch wurde nach höchsten Standards operiert

Erfolgsgeschichten wie diese sind häufiger geworden – dank einer stillen Revolution der Krebstherapie in Deutschland. Das Rezept: Qualitätssicherung. Es ist ein Kraftakt von führenden medizinischen Organisationen, Krankenversicherungen und Politikern mit dem ehrgeizigen Ziel, die Behandlung von Krebs in die Hände nur derer zu legen, die es wirklich können.

Vor elf Jahren bekam die Revolution, die schon kurz nach der Jahrtausend wende begann, ihren Namen – „Nationaler Krebsplan“: Alle Patienten deutschlandweit sollten Zugang zu bestmöglicher Früherkennung, Krebstherapie und Informationen bekommen – und das nach Standards, die in regelmäßigen Zeitabständen kontrolliert werden. Zertifizierten Zentren kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Mehr als 1300 hat allein die Deutsche Krebsgesellschaft DKG ausgezeichnet. Wer sich an solchen Zentren behandeln lässt anstatt irgendwo in der Krankenhaus-Prärie, lebt länger – das konnte mittlerweile in Studien mit Daten der klinischen Krebsregister oder Krankenkassen gezeigt werden.

Nie zuvor hatten Patienten in Deutschland so viele Möglichkeiten wie heute, die Regie über die eigene Krebsbehandlung zu übernehmen. Doch Krankenhäuser sind nicht verpflichtet, sich dem Zertifizierungsprozess zu unterziehen. Deshalb gibt es eine Zwei-Klassen-Krebsmedizin, die nichts damit zu tun hat, ob jemand privat oder gesetzlich versichert ist: Immer noch lassen sich je nach Tumorart 22 bis 95 Prozent der Patienten an oft kleineren Kliniken behandeln, die ihre Eignung niemals nachgewiesen haben. Dort laufen sie Gefahr, von Chirurgen operiert zu werden, die kaum Routine in den ausgefeilten Operationsverfahren haben. Oft mangelt es an Personal, sogar wichtige Fachabteilungen fehlen. Die Folgen? Fatal.

„An Häusern ohne versierte Leberchirurgen stuft man Betroffene immer noch vorschnell als inoperabel ein“

Beispiel Brustkrebs: In Krankenhäusern mit geringen Fallzahlen werden Patientinnen öfter Brüste amputiert, und doch sterben sie im Schnitt früher als in Häusern mit vielen Fällen, die eher brusterhaltend operieren. Beispiel fortgeschrittener schwarzer Hautkrebs: Es gibt neue Immuntherapien, die Überlebenschancen deutlich verbessern können. „Die kommen noch zu selten zum Einsatz“, sagt Simone Wesselmann, DKG-Zertifzierungsbeauftragte. Stattdessen werde ohne genaue Indikationsprüfung immer noch eine nebenwirkungsreiche Chemotherapie gegeben, die nur bei weit fortgeschrittener Erkrankung sinnvoll wäre. Beispiel multiple Lebermetastasen: Früher galten sie als Todesurteil, doch dank großer Fortschritte in der Leberchirurgie können nicht wenige Patienten sogar in diesem Spätstadium geheilt werden. „An Häusern ohne versierte Leberchirurgen aber stuft man Betroffene immer noch vorschnell als inoperabel ein“, sagt der Bauchchirurg Pompiliu Piso, Chefarzt am Krankenhaus Barmherzige Brüder in Regensburg und Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Chirurgische Onkologie. Beispiel Dickdarmkrebs: Vor rund 20 Jahren etablierte sich ein OP-Verfahren namens „Totale Mesorektale Exzision“ (TME) für Tumoren im Rektumbereich. Dabei wird eine Bindegewebsschicht mit entfernt, in der sich häufig Krebszellen tummeln. Patienten, die auf diese Weise operiert werden, erleiden fünfmal seltener schwere Komplikationen und überleben doppelt so häufig.

Chefarzt Pompiliu Piso (l.) und Oberarzt Hubert Leebmann, Chirurgen aus Regensburg

„Es gibt immer noch Ärzte, die nach der alten Methode oder inkomplett operieren“, sagt Piso.

Nach der OP werden Krebspatienten oft alleingelassen. „Sie müssen sich teilweise sogar selbst um die Nachsorge kümmern“, sagt der Gynäkologe Matthias Beckmann von der Uniklinik Erlangen, der seit Langem für eine Zentralisierung der Krebsbehandlung kämpft. „Man entlässt sie mit dem Rat, sich bei einem Onkologen oder Strahlentherapeuten ihrer Wahl vorzustellen. Damit sind viele überfordert.“

An einem Krankenhaus mit Zertifikat der deutschen Krebsgesellschaft hingegen ist garantiert, dass pro Jahr mindestens 50 Brustkrebs-Patientinnen behandelt werden; dass jeder operierende Chirurg mindestens 50 und jedes Zentrum insgesamt mindestens 100 solcher Eingriffe durchführt und es oft schafft, den Tumor im Ganzen zu entfernen; dass jede Woche Tumorkonferenzen stattfinden, in denen Ärzte das beste Vorgehen planen – Chirurgen, Radiologen, Strahlentherapeuten, Onkologen und Pathologen. Das Team trifft überlebenswichtige Entscheidungen: Ist es ratsam, einen Tumor gleich zu operieren oder ihn zuvor per Chemo- oder Strahlentherapie zu verkleinern? Und ob man gar nicht operieren oder den Patienten an noch spezialisiertere Zentren überweisen sollte.

Die OP-Verfahren sind mittlerweile so avanciert, dass nur noch wenige Chirurgen den ganzen Bauchraum beherrschen

Krankenhäuser können sich diese Zertifikate nicht ermogeln: Jedes Jahr kontrollieren von der Deutschen Krebsgesellschaft benannte Experten, ob die Klinik ihre Versprechen hält. Sie besuchen Tumorkonferenzen, blicken im OP-Saal den Ärzten über die Schulter und wälzen Krankenakten. Ähnlich streng sind die Kontrollen für das Zertifikat der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV), die eng mit der Deutschen Krebsgesellschaft zusammenarbeitet. Es fordert den Chirurgen noch mehr Erfahrung ab. Das Krankenhaus Barmherzige Brüder in Regensburg hat ein solches Zertifikat für Bauchfellerkrankungen. Hierhin wurde Isabell Deutsch von ihren Fürther Ärzten überwiesen.

Der Chirurg Hubert Leebmann operiert dort jährlich mindestens 25 Fälle wie den ihren. Der Eingriff erfordert extrem viel Erfahrung. Man schneidet in Bereichen, die ins Fachgebiet von Gynäkologen und Urologen fallen – Blase, Harnleiter, Niere, Eierstöcke, Gebärmutter. Leebmann muss genau wissen, wo wichtige Nervenbahnen und große Blutgefäße liegen. Ein falscher Schnitt kann Lähmungen und Inkontinenz zur Folge haben. Die OP-Verfahren sind mittlerweile so avanciert, dass nur noch wenige Chirurgen den ganzen Bauchraum beherrschen. In England und den Niederlanden haben sich deshalb stärker als in Deutschland Fraktionen herausgebildet: Die einen operieren nur Leber, Galle und Bauchspeicheldrüse, andere Magen und Speiseröhre, wieder andere den Dickdarm.

Als Leebmann den Bauchraum von Isabell Deutsch öffnete, musste er abschätzen, ob ihr eine Operation überhaupt zuzumuten wäre. Die Rate schwerer Komplikationen liegt bei einem Drittel. Für die Einschätzung muss der Arzt viele Krankheitsverläufe miterlebt haben, und er vergibt Punkte auf einer Skala von 0 bis 39. Je mehr, desto weiter haben sich die Tumoren ausgebreitet, ab einem Wert von 20 wäre Deutsch nicht operabel. Sie bekam acht Punkte – gut operabel. Während des Operierens stand Leebmann vor der für ihn größten Herausforderung: einen Kompromiss zwischen chirurgischem Ehrgeiz und der späteren Lebensqualität zu finden. „Natürlich will man möglichst alles wegnehmen, was von Krebs befallen ist“, sagt er. „Man muss sich bremsen, Grenzen demütig erkennen und entscheiden, was mit der Lebensqualität des Patienten noch vereinbar ist.“ Isabell Deutsch sollte so lange wie möglich leben – er entschied sich, radikal vorzugehen. Alles Tumorgewebe musste raus. Ein großes Stück Dickdarm. Teile des Dünndarms. Gallenblase. Bauchfell. Eierstöcke. Gebärmutter. Acht Stunden dauerte der Eingriff. Später folgte Teil zwei der Therapie: Über einen Schlauch leitete Leebmann eine etwa 42 Grad heiße Spüllösung mit zwei Chemotherapeutika in den Bauchraum. Das Verfahren, „HIPEC“, belastet den Körper deutlich weniger als andere Chemotherapien. Die Hitze verstärkt die Zerstörungskraft der Medikamente gegen Krebszellen.

Am größten ist die Angst, dass der Krebs zurückkommt

Obwohl große Expertise vonnöten ist, bieten mittlerweile etwa 70 Krankenhäuser diese Bauchfelloperationen an, sagt Pompiliu Piso. „Das bereitet mir Sorgen, denn viele machen den Eingriff nur wenige Male im Jahr.“ Es ist ein Grundproblem der deutschen Chirurgie, in der der Alleskönner immer noch König ist. Allgemeinchirurgen dürfen ohne einschlägige Erfahrung komplizierteste Bauchoperationen wagen. Ein Zweckbündnis aus Politikern, Ärztefunktionären und Krankenhausgesellschaften stemmt sich gegen alle Bemühungen, das zu ändern. Soeben wurde auf dem Deutschen Ärztetag beschlossen, die Chirurgenweiterbildung sogar um ein Jahr zu verkürzen – gegen den Protest chirurgischer Fachgesellschaften. Warum? Damit jeder Bürger nahe vor der Haustür sein Krankenhaus hat. Sinnvoll ist das bei Blinddarmentzündungen oder Knochenbrüchen – aber bei Krebs? „Das Argument der Wohnortnähe ist schlicht falsch und führt zu Todesfällen“, sagt der Erlanger Gynäkologe Beckmann.

So existiert in Deutschland beides nebeneinander: der erklärte Wille, dass möglichst bald schon alle Krebspatienten nur noch von versierten Spezialisten behandelt werden. Und der Wille, alles zu lassen wie bisher, damit kein Krankenhaus schließen muss. Doch Patienten können sich heute besser als je zuvor informieren – und selbst entscheiden.

Isabell Deutsch brauchte viele Monate, um sich zu erholen. Sie verlor 20 Kilogramm. Ihr Körper war eine große, schmerzende Wunde, lange konnte sie nur gebückt gehen. An ein Leben ohne Bauchfell musste sie sich mühsam gewöhnen. Bei Gesunden produziert es eine Flüssigkeit, die als Gleitmittel die Kontaktflächen zwischen den inneren Organen schmiert. Ohne Bauchfell fühle es sich manchmal an, als ob diese Organe durcheinanderpurzelten, sagt Deutsch. „Und ich habe immer Angst, dass ich stürze und meine Narbe platzt.“

Am größten aber sei die Angst, dass der Krebs zurückkomme. Doch diese Wahrscheinlichkeit sinkt mit jeder Nachkontrolle.Vor einem Jahr hat sie die die kritische Fünfjahres-Grenze nach ihrer Krebstherapie überschritten und kann sich heute – so das Ergebnis einer Langzeitstudie aus Frankreich – als geheilt betrachten.


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