Kinder Gesundheit

Long

Der dritte Stock ist ihr Endgegner: Wenn Sabine Manzel die Treppen nur ein bisschen zu schnell hinaufläuft, japst sie nach Luft, ihr Herz rast, der Kreislauf macht schlapp. Dann muss sie sich erst mal hinsetzen und atmen, ganz langsam und gleichmäßig, berichtet sie, bis es nicht mehr schmerzt und der Druck auf der Brust nachlässt.

Nicht nur beim Treppensteigen gehe es ihr so. Auch wenn sie länger als eine halbe Stunde spazieren geht, braucht die 47-Jährige manchmal einen ganzen Tag, um sich wieder vollständig zu erholen. So erzählt sie es heute.

Vor rund neun Monaten erkrankte sie an Covid-19, ihr Verlauf war mild. Doch sie erholte sich nicht von der Krankheit, heute geht es ihr immer noch schlecht, sie hat oft Kopfschmerzen, Schwindel, fühlt sich erschöpft. Noch immer ist sie krankgeschrieben.

Sabine Manzel, 47, ist Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Seit sieben Monaten leidet sie an den Folgen ihrer Corona-Infektion.

Sie suchte unterschiedliche Ärzte auf, war zunehmend verzweifelt. Niemand wusste so recht, was man für sie tun konnte. Sie bekam Vitaminpräparate – die nicht halfen. »Ich komme mir vor wie ein Versuchskaninchen«, sagt sie.

Manzel leidet unter Long Covid. So werden die Symptome genannt, die viele Covid-19-Patientinnen und -Patienten noch Wochen oder Monate nach ihrer Infektion haben und die Medizinerinnen und Wissenschaftlern zunehmend Sorgen bereiten. Betroffene berichten von dauerhafter Erschöpfung, sogenanntem Gehirnnebel (»brainfog«), Kopfschmerzen, Tinnitus, Kurzatmigkeit oder Niedergeschlagenheit.

Behandlung muss individuell sein

Eine Studie an der Berliner Charité hat 42 Patientinnen und Patienten der ersten Welle in Deutschland untersucht, die einen eher leichten Verlauf von Covid-19 hinter sich hatten und noch sechs Monate nach ihrer Infektion unter Erschöpfung litten. Bei der Hälfte von ihnen wurde das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) diagnostiziert, ein Erschöpfungssyndrom, das nach Infektionskrankheiten auftreten kann. Die Ursachen sind unklar, eine Behandlung der vielfältigen Symptome muss an den einzelnen Patienten angepasst werden.

Dafür muss jedoch erst einmal ein Bewusstsein für die Krankheit geschaffen werden, der Auffassung ist jedenfalls die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie mahnt schon seit Längerem, die Covid-Langzeitfolgen intensiv zu erforschen und Behandlungsmöglichkeiten für Betroffene zu schaffen. Kürzlich veröffentlichte sie einen Überblick, der die aktuelle Studienlage zusammenträgt und die Situation in verschiedenen Ländern skizziert. Der Report soll dazu beitragen, die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Belange von Betroffenen zu lenken.

»Die Belastung ist real und erheblich«, sagte der WHO-Direktor für Europa, Hans Kluge, vergangene Woche. Obwohl es schon kurz nach Beginn der Pandemie erste Berichte über Langzeitfolgen gegeben habe, seien viele Betroffene auf »Unglauben und Unverständnis« gestoßen. Kluge forderte, diese Patienten ernst zu nehmen.




Annika B., 29, Sozialarbeiterin in Hannover, ist schon ein Jahr lang krank. Im März 2020 infizierte sie sich mit Sars-CoV-2. Wo, das weiß sie nicht.

Sie hatte keine schweren Symptome: trockener Husten, leichte Kurzatmigkeit, ein allgemeines Krankheitsgefühl, sonst nichts. »Doch statt gesund zu werden, fühlte ich mich immer schlimmer«, erinnert sie sich. Sorgen machte sie sich trotzdem zunächst nicht, »es hieß ja immer, Covid-19 ist nur für ältere Menschen gefährlich, ich war jung und fit.«

Doch stattdessen begann eine Odyssee. Nach etwa fünf Wochen habe sie angefangen, neurologische Symptome zu entwickeln. Sie hatte Missempfindungen, Kribbeln oder ein Taubheitsgefühl im ganzen Körper. »Das Ganze gipfelte darin, dass ich im Bett lag und meinen Kopf nicht mehr heben konnte, ohne dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich konnte kaum noch sprechen. Ich habe am ganzen Körper geschlottert, ohne dass ich das kontrollieren konnte. Mir war schlecht. Mein Herz raste, und ich hatte wirklich in dem Moment das Gefühl, das war’s jetzt für mich.«

Ihr Freund rief den Krankenwagen. Was sie dann erlebte, empfand B. als traumatisch. Die Sanitäter tippten auf eine Panikattacke. Dass sie unter den Folgen einer Covid-Erkrankung leiden könnte, darauf kam niemand – und ihr wurde nicht geglaubt, als sie selbst diese These äußerte. »Die haben mich nicht ernst genommen, weil mein PCR-Test negativ war«, sagt B. »Aus heutiger Sicht ist das klar, das war ja schon fünf Wochen nach meiner Infektion.«

Das CT ihrer Lunge sei unauffällig gewesen, für die Ärzte damals ein Indiz, dass es sich nicht um einen Atemwegsinfekt handeln konnte. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, ging es ihr kaum besser. Doch die Ärzte waren ratlos, wie sie der jungen Frau helfen sollten.

Frauen häufiger betroffen als Männer

Man kann es ihnen kaum verübeln: Anfangs war noch wenig über die Langzeitfolgen von Covid-19 bekannt, die Ärztinnen und Ärzte waren oft schon mit der Behandlung der neuen Krankheit im akuten Stadium überfordert. Doch mittlerweile weiß man mehr über Long Covid.

Es gibt zwar keine Statistik, wie viele Menschen in Deutschland und weltweit an Langzeitbeschwerden leiden. Doch die WHO schätzt, dass etwa jeder Zehnte nach einer Ansteckung mit Sars-CoV-2 auch noch drei Monate später unter Symptomen wie Müdigkeit und Kurzatmigkeit, aber auch unter kardiologischen und neurologischen Problemen leidet. Frauen sind häufiger betroffen als Männer.

»Die Symptome sind so vielfältig, dass die Krankheit trotzdem noch nicht vollständig erfasst ist«, sagt Juliane Winkelmann, die an der TU Berlin für das European Observatory on Health Systems and Policies arbeitet und sich für die WHO einen Überblick über die Situation von Long-Covid-Patienten in Deutschland verschafft hat. Auch sie hat beobachtet, dass Patientinnen und Patienten häufig nicht ernst genommen werden, etwa von Hausärztinnen und Hausärzten, die noch nicht für die Langzeitfolgen sensibilisiert seien und Erkrankte nicht an entsprechende Stellen weiterleiteten. »Denn es gibt, vor allem in größeren Städten in Deutschland, bereits Post-Covid-Ambulanzen für Betroffene oder Reha-Kliniken, die sich auf das Krankheitsbild spezialisiert haben«, sagt sie.

»Das müsste noch besser politisch kommuniziert werden«, sagt Winkelmann. »Es geht eben nicht nur um Krankenhausbetten für die akut Kranken, sondern auch um die Menschen, die vielleicht ein halbes Jahr lang krankgeschrieben sind und nicht mehr die gleichen sind wie vorher.« Dafür müsse ein Bewusstsein geschaffen werden, gerade auch, um einem Stigma entgegenzuwirken.


Anfang Februar trafen sich Vertreter der WHO, um über die diffusen Langzeitsymptome nach Covid-19 zu beraten. »Wir wollen die klinischen Aspekte hinter dem Krankheitsbild verstehen und wissen, wie es genau entsteht«, sagt Janet Diaz, die bei der Weltgesundheitsorganisation unter anderem den wissenschaftlichen Austausch zu Long Covid koordiniert. »Wir sind uns vor allem einig, dass wir noch weitere Studien benötigen, um eine angemessene Versorgung für die Patienten zu entwickeln.«

Man habe damit gerechnet, dass Betroffene mit schweren Verläufen, die beatmet werden mussten oder deren Lungenfunktion stark eingeschränkt war, unter Langzeitfolgen leiden würden. »Aber dass es jetzt auch hauptsächlich junge Patienten mit milden Verläufen trifft, hat uns überrascht«, sagt Diaz. »Viele von ihnen waren nicht einmal beim Arzt, als sie Covid hatten. Und auf einmal, Wochen später, kommen die Symptome zurück, und viele Ärzte stellen dann keinen Zusammenhang zu Covid mehr her.«

Hoffen, dass es vorbeigeht

So wie bei Annika B. Sie brauchte Monate, bis sie wieder ein paar Hundert Meter laufen konnte, erzählt sie. Im Herbst, also mehr als ein halbes Jahr nach ihrer Infektion, habe sie Herzprobleme bekommen, dann eine Darmentzündung. Ihrer Aussage zufolge glaubt ihr behandelnder Arzt, dass auch diese auf Covid-19 zurückzuführen ist: »Sie hing wahrscheinlich mit autoimmunen Entzündungsprozessen zusammen.«

Mittlerweile wissen die Ärzte besser Bescheid über die vielfältigen Symptome von Long Covid. Dennoch können sie nicht viel für die junge Frau tun: »Es ist mehr so ein experimentelles Behandeln mit Nahrungsergänzungsmitteln zur Unterstützung des Immunsystems«, sagt sie. »Ich versuche, wieder einmal am Tag spazieren zu gehen und leichte Hausarbeiten zu erledigen.«

Halt habe sie zudem in Selbsthilfegruppen gefunden. »Der Austausch mit anderen Betroffenen tut gut, man merkt, dass man nicht allein ist und die Beschwerden real sind«, sagt sie.

Auch Sabine Manzel versucht, sich langsam wieder an Belastung zu gewöhnen. Doch immer wieder kommen Rückschläge. »Ich arbeite wieder ein bisschen, aber nicht unter Volllast«, sagt sie. »Ich teile mir meine Aufgaben so ein, dass ich Pausen machen kann. Ich muss immer darauf aufpassen, dass ich nur 65 Prozent meiner früheren Leistungskraft habe.« Sie versuche, die Krankheit mit Fassung zu tragen. »Mir bleibt ja nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren«, sagt sie. »Und zu hoffen, dass es irgendwann vorbeigeht.«

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