Herr Beißel, Sie sind HIV-positiv und haben sich entschieden, auch in Ihrem beruflichen Umfeld über Ihre Infektion zu sprechen – obwohl Sie rechtlich nicht dazu verpflichtet sind. Warum sind Sie diesen Schritt gegangen?
Ich bin ein sehr offener und ehrlicher Mensch, auch in meinem beruflichen Umfeld. Doch irgendwann war ich an dem Punkt angelangt, an dem ich das Gefühl hatte, mich zu verstellen und etwas zu verbergen. Ein Beispiel: Ich gehe alle drei Monate Mittwochmorgens zur Blutabnahme, um die Viruslast in meinem Blut zu überprüfen. Dieser Termin ist festgesetzt. Dann wurde der Termin für unser Team-Meeting auf diesen Tag verlegt und ich habe meinen Vorgesetzten über den Arzttermin informiert. Er kennt mich sehr gut und weiß, dass ich eigentlich nie beim Arzt war. Natürlich machte er sich Sorgen. Außerdem hat er festgestellt, dass mich irgendetwas bedrückt. Ich war nicht mehr so frei und kreativ wie früher.
Sie haben Ihren Kollegen schließlich von Ihrer Infektion erzählt. Was haben Sie sich davon erhofft?
Wieder freier leben zu können. Aber was das einem tatsächlich zurückgibt, merkt man erst, wenn man diesen Schritt gegangen ist. Ich sage immer: Es hat mir unter anderem mein Fundament zurückgegeben. Ich war wieder mehr ich selbst und hatte mehr Raum für Kreativität; für einen natürlichen Umgang miteinander.
Jörg Beißel, 37, arbeitet als Senior Facility Specialist mit dem Schwerpunkt Außenanlagen beim Softwarehersteller SAP. Er ist Gesicht der Kampagne #positivarbeiten, die sich für einen diskriminierungsfreien Umgang mit HIV-Positiven im Arbeitsleben ausspricht. Das Foto zeigt Jörg Beißel beim Unterzeichnen der Deklaration der Deutschen Aidshilfe.
Wie sind Sie vorgegangen: Haben Sie es zuerst Ihrem Vorgesetzten erzählt? Befreundeten Kollegen?
Zunächst habe ich mich meinen engsten Freunden im Privaten anvertraut. Dann folgte das berufliche Umfeld. Ich habe einen Arbeitskollegen, mit dem ich sehr eng zusammenarbeite, und meinen Vorgesetzten, der mir auch sehr nahe ist. Den beiden habe ich es zuerst gesagt. Mein Chef hat besonders toll reagiert: Er ist aufgesprungen, hat mich umarmt und meinte, er sei mir dankbar, dass ich etwas so Persönliches mit ihm teile. Diese Reaktion habe ich häufiger erlebt: Die Leute sehen einfach, dass man ihnen etwas wirklich Privates anvertraut. Damit verändern sich auch Beziehungen im geschäftlichen Bereich. Die Menschen sind dankbar dafür, dass man ihnen Respekt und Vertrauen entgegenbringt. Ich fühle mich seitdem deutlich, deutlich wohler auf der Arbeit.
Waren Sie überrascht über die Reaktionen?
Ja und Nein. Natürlich hatte ich gehofft, dass die beiden es verstehen und versuchen werden, normal mit mir umzugehen. Aber dass sie so emotional – und so gut – reagieren, das hat mich tatsächlich überrascht.
Haben Sie auch Ausgrenzung erfahren?
Bei meiner Firma SAP habe ich keine einzige diskriminierende Situation gehabt. Stattdessen habe ich gelernt: Ausgrenzung ist auch das, was ich zum Teil selber betrieben habe. Indem ich glaubte, dass Menschen mit einer gewissen Information nicht umgehen können. Mittlerweile kommen auch Kollegen auf mich zu, mit denen ich beruflich so meine Differenzen hatte. Sie sagen mir: „Ich bin ja nicht oft deiner Meinung, aber das, was du in Hinblick auf das Thema HIV machst: ‚Hut ab, das finde ich echt gut‘.“
Damit haben Sie großes Glück. Viele HIV-positive Menschen erleben heute nach wie vor Ausgrenzung und Ablehnung, obwohl die Infektion heute gut behandelbar ist und im alltäglichen Umgang überhaupt keine Ansteckungsgefahr besteht.
Das stimmt. Ich bin in einer Selbsthilfegruppe, in der ein junger Mann erst kürzlich über seine Erfahrungen mit Ausgrenzung berichtet hat: Durch unglückliche Umstände kam in seiner Firma heraus, dass er HIV-positiv ist. Man hat ihm daraufhin nahegelegt, dass er seine Ausbildungsstelle wechseln möge. Ausgrenzung gibt es noch immer, und auch viel häufiger als man denkt. Sie hat viele Gesichter. Ausgrenzung beginnt manchmal schon damit, dass man HIV-positiven Menschen nicht mehr so viel zutraut und denkt, sie seien beruflich nicht mehr so belastbar.
Wie lässt sich Ausgrenzung verhindern?
Durch Informationen und Aufklärung. Die Themen HIV und Aids sind in den letzten Jahren leider ein wenig in Vergessenheit geraten, weil man positiven Menschen die Infektion dank neuer Medikamente nicht mehr ansieht. Gefühlt ist die Krankheit damit weit in die Ferne gerückt. Der Wissensstand vieler Menschen hört irgendwo Ende der Neunzigerjahre auf. Sie haben noch Bilder von Aidskranken im Kopf, denen man ansieht, dass sie eine tödliche Krankheit haben. Zum Glück ist HIV heute kein Todesurteil mehr, aber es ist wichtig, sich vor HIV zu schützen. Es gibt nach wie vor Neu-Infektionen. HIV ist nach wie vor nicht heilbar.
Wie haben Sie im Frühjahr 2015 von Ihrer Infektion erfahren?
Ich muss dazu sagen, ich bin einer der selteneren Fälle, weil ich es tatsächlich selber gemerkt habe. Natürlich habe ich nicht damit gerechnet, dass ich HIV habe. Aber mir ging es sehr schlecht und ich habe bei meinem Hausarzt ein Blutbild machen lassen. Mein Arzt meinte daraufhin, das ganze Blutbild sähe aus, als hätte man Mikado-Stäbchen wild durcheinander geworfen. Daraufhin hat man weitere Tests gemacht und das Virus direkt nachweisen können. Die Infektion war noch ganz frisch. Der Schock saß erstmal tief.
Wissen Sie, wie Sie sich angesteckt haben?
Ja, das weiß ich. Es gab zu diesem Zeitpunkt nur eine Person, die mich angesteckt haben könnte. Aber ich sage immer: Letzten Endes ist die Art und Weise, wie man sich infiziert hat, egal. Wichtig ist, sich zu schützen – mit Kondomen oder der Prep-Pille, die man vor einem Risiko-Kontakt einnimmt. Auch regelmäßige Tests sind wichtig. Hätte derjenige, der mich infiziert hat, sich früh genug testen lassen, wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen.
Haben Sie auch Ihrer Familie davon erzählt?
Ja, ich habe es zunächst meinen Freunden erzählt und im Anschluss meinen Eltern und meiner Schwester. Das war mit Sicherheit eine der schwersten Hürden. Dazu muss ich sagen: Als ich mich infiziert habe, war meine Mutter gerade mit ihrer Chemotherapie fertig. Sie hat eine unheilbare Krebsform. Ihr ging es gerade wieder einigermaßen gut und ich habe mich damals gefragt: Könnte ich damit leben, dass sie stirbt und ich habe das Gefühl, es hat mit meiner Nachricht zu tun? Meine Mutter meinte danach nur zu mir: „Weißt du, ich werde nie aufhören, deine Mutter zu sein und mir Gedanken und Sorgen zu machen, selbst wenn ich auf meinem Sterbebett liege.“ Diese Reaktion hat mich unheimlich berührt, aber auch wieder viel Ruhe und Gelassenheit zurückgegeben.
Wie geht es Ihnen heute?
Ich nehme Medikamente, um die Virenreproduktion zu verringern und letztlich in meinem Blut einzudämmen. Diese Medikamente sind sehr effektiv. Bereits drei Monate nach der Diagnose war ich unter der Nachweisgrenze, das bedeutet: Die Virenanzahl in meinem Blut ist so gering, dass gängige Tests nicht mehr anschlagen und vor allem eine Übertragung nicht mehr möglich ist.
Die Deklaration der Deutschen Aidshilfe wirbt für einen diskriminierungsfreien Umgang mit HIV-positiven Menschen im Arbeitsleben. Mehr als 50 namhafte Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen haben die Erklärung bereits unterschrieben, darunter Bosch, Daimler, Deutsche Bahn, SAP und die Techniker Krankenkasse. Weitere Informationen gibt es hier.
Sie sind Gesicht der Kampagne #positivarbeiten der Deutschen Aidshilfe, die für einen diskriminierungsfreien und respektvollen Umgang mit HIV-positiven Menschen und auch allen anderen im Arbeitsleben wirbt. Was raten Sie anderen Betroffenen, die selbst vor der Entscheidung stehen: Sage ich es Freunden und Kollegen – oder nicht?
Ich würde raten: Vertraut auf euer Umfeld. Öffnet euch Stück für Stück – aber überstürzt nichts. Erzählt vielleicht zunächst einem guten Freund davon. Oder der Familie. Jede positive Erfahrung hat mich darin bestärkt, offen mit dem Thema umzugehen. Sie geben einem Gelassenheit und Sicherheit zurück.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich würde mir wünschen, dass Menschen viel häufiger ohne Vorurteile miteinander umgehen. Dass sie auch mal einen Schritt zurückgehen, eine Situation von außen betrachten und sich fragen: Wie würde ich mich in dieser Situation fühlen? Toleranz wirklich zu leben bedeutet auch, „Anders-Sein“ bewusst zuzulassen.
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