Kanzlerin Angela Merkel hat das Steuer in die Hand genommen: Für die geplante Notbremse ab einer 100er-Inzidenz soll das Infektionsschutzgesetz geändert werden. Problematisch, wie Epidemiologe Klaus Stöhr und Drosten-Vorgänger Detlev Krüger finden.
Einschneidende Maßnahmen sollen gelten, sobald die 7-Tages-Inzidenz den Wert von 100 überschreitet. Und zwar künftig für alle Bundesländer, ohne Ausnahmen. So will es Kanzlerin Angela Merkel.
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Sich dabei als alleinige Messgröße auf die Inzidenz zu stützen, davor warnen jetzt zwei renommierte Experten. Klaus Stöhr, ehemaliger Leiter des Globalen Influenza und Pandemievorbereitungsprogrammes der WHO Genf und Detlev Krüger, Vorgänger von Christian Drosten als Direktor des Instituts für Virologie der Charité Berlin, haben darum einen offenen Brief an die Fraktionschefs des Deutschen Bundestages sowie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble verfasst.
Die Wissenschaftler mahnen: „Wir raten dringend davon ab, bei der geplanten gesetzlichen Normierung die ‚7-Tages-Inzidenz‘ als alleinige Bemessungsgrundlage für antipandemische Schutzmaßnahmen zu definieren.“
Wissenschaftler: Blick stärker auf die Krankheitslast legen
Vielmehr sollte die Politik ihre Maßnahmen an Erkrankungen ausrichten, nicht nur an Infektionszahlen. Denn der Inzidenz-Wert gebe unter anderem „aufgrund der durchaus erwünschten Ausweitung von Testaktivitäten zunehmend weniger die Krankheitslast in der Gesellschaft wieder“. Wer viel testet, findet viele Infizierte. Doch nicht jeder, der positiv ist, erkrankt auch.
Daher sei es Stöhr und Krüger zufolge hilfreich, „die Häufigkeit der Erkrankungen und ihrer jeweiligen Schwere, also insgesamt die Krankheitslast“ zu berücksichtigen. Die Krankheitslast berücksichtige unter anderem Hospitalisierungen, krankheitsbedingten Arbeitsausfall, Behinderung und verlorene Lebensjahre.
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Weiterer Kritikpunkt der Wissenschaftler: „Die im Gesetzesvorhaben vorgesehene 7-Tages-Inzidenz differenziert nicht, in welchen Altersgruppen, Lebensräumen und Bevölkerungsgruppen Infektionen auftreten.“ Warum das problematisch ist, erklären sie folgendermaßen: „Eine gleich hohe Inzidenz kann dramatisch unterschiedliche Bedeutungen haben, je nachdem ob sie zum Beispiel bei primär gesunden Studierenden, bei schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppen, bei besonders vulnerablen Menschen oder diffus in der Gesamtbevölkerung verteilt gemessen wird.
Neuaufnahmen von Covid-Patienten zeigten Infektionsdynamik besser
Statt der 100er-Inzidenz plädieren Stöhr und Krüger für eine Bemessungsgrundlage, die sie für ebenso leicht zu bestimmen wie zu kommunizieren halten, nämlich „die tägliche Anzahl der Covid-bedingten intensivstationären Neuaufnahmen, differenziert nach Landkreis des Patientenwohnortes, Alter und Geschlecht mit Berücksichtigung diesbezüglicher zeitlicher Trends“.
Ähnliches hatte am Dienstag auch Katharina Schüller in einem Gastbeitrag für FOCUS Online angeregt.
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Diese Kennzahl sei nicht zu verwechseln mit der im DIVI-Register derzeit berichteten „Anzahl der mit Covid-19 belegten Intensivbetten“, welche ebenfalls eine wichtige Information bezüglich der Versorgungslage liefere. Dennoch argumentieren Stöhr und Krüger: „Die Zahl intensivstationärer Neuaufnahmen kann die Dynamik des Infektionsgeschehens besser abbilden als die intensivmedizinische Belegungsstatistik.“
Gravierende Auswirkungen auf Wirtschaft verhindern
Letztlich warnen die Wissenschaftler davor, dass die 100er-Inzidenz, in einem Gesetz festgeschrieben, Flexibilität raube. Es könnte zur Folge haben, „dass selbst dann massive Einschränkungen der Freiheitsrechte mit gravierenden Auswirkungen auf Wirtschaft, Kultur und die körperliche und seelische Gesundheit erfolgen müssten, wenn längst weniger krankenhauspflichtige Erkrankungen als während einer durchschnittlichen Grippewelle resultierten“. Ein solches Szenario halten die Experten für „durchaus realistisch und zeitlich absehbar“, sofern Deutschland zunehmend erfolgreich impft.
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