Gesundheit

"An nichts denken zu wollen ist Unsinn": Das sagt ein Psychologe über Missverständnisse des Meditierens

Herr Bornemann, wenn ich gestresst und genervt von der Arbeit komme und mir auch noch viel Sorgen mache: Was hilft besser? Ein Bier, ein Joint oder meditieren?
Langfristig auf jeden Fall die Meditation. Kurzfristig kann ein Bier sicher mal entspannen, wenn man genervt von der Arbeit nach Hause kommt. Den Joint überhöre ich jetzt mal dezent. Aber Sie haben hier einen wichtigen Punkt angesprochen.

Und zwar?
Nämlich die Frage, ob Meditation ein Quick Fix ist, also eine schnelle Lösung für Probleme.

Und?
Ist sie nicht. Manche „verkaufen“ sie so. Aber Meditation ist ein langer Weg. Es braucht Übung und Regelmäßigkeit. Dann bringt sie richtig was – und ist übrigens deutlich gesünder als Saufen und Kiffen.

Definieren Sie doch mal Meditation.
Man versteht darunter verschiedene Wege, sich mit seinem Bewusstsein auseinanderzusetzen. Es geht um Methoden, sich mit dem eigenen Erleben vertraut zu machen, es besser zu verstehen und bestimmte Qualitäten in ihm zu kultivieren.

Im Video: Das „innere Ohr“ durch Meditation schulen

Häufig wird Meditation auch als Achtsamkeitstraining bezeichnet.
Der Begriff ist zentral, aber leider auch in den letzten Jahren arg strapaziert worden. Das ist zu einem richtigen Modewort geworden. Selbst der bekannte „Meditations-Papst“ Jon Kabat-Zinn aus den USA vermeidet das Wort mittlerweile. Er sagt übrigens, es klinge auf Deutsch besonders militärisch: „Sei achtsam.“

Also nicht achtsam sein?
Doch. Aber nicht in diesem Befehlskontext. Das klingt, als ob man immer mit weit aufgerissenen Augen durch die Welt gehen sollte. Kabat-Zinn sagt lieber „Gewahr-Sein“ oder „Bezogenheit“. Das gefällt mir. Wie bin ich auf das, was ist, bezogen? Welche Haltung nehme ich dazu ein?

Geben Sie mal ein Beispiel.
Wenn ich Angst habe, kann ich sie abwehren oder gegen sie kämpfen. Ich kann sie aber auch erst einmal nur realisieren und annehmen, sie vielleicht sogar willkommen heißen, um ihr die Macht zu nehmen. Meditation kann helfen, diese Haltung einzunehmen, weil wir lernen, nicht immer gleich zu werten, sondern erst einmal nur wahrzunehmen.

Was sagt die Forschung? Was bringt Meditation?
Es gibt zahllose Studien, die zeigen, dass regelmäßiges Meditieren unter anderem hilft, Stress zu reduzieren, das Immunsystem stärkt, die Schlafqualität verbessert, die Zellalterung verlangsamt, die Schmerzempfindlichkeit reduziert und insgesamt die Aufmerksamkeit verbessert.

Gibt es nachweisbare physische Veränderungen?
Ja, wir können etwa messen, dass der Pegel des Stresshormons Cortisol bei Meditierenden sinkt, und wir können beispielsweise im MRT sehen, dass bestimmte Gehirnregionen, etwa die für Körperwahrnehmung oder für Steuerung von Angst, sich signifikant verändern. Und zwar auf positive Weise.

Wie funktioniert das?
Wir können die Ergebnisse messen und verstehen auch ein bisschen die biochemischen Vorgänge dahinter. Dennoch greifen rein mechanische Erklärungen meines Erachtens zu kurz. Es geht vor allem um eine Veränderung des Bewusstseins. Wie das mit der Materie zusammenhängt, ist nicht letztgültig geklärt.

Gehen wir mal in die Praxis. Wie fängt man an? Es heißt ja immer: sich hinsetzen und atmen.
So kann man beginnen. Man kann auch im Liegen fühlend und konzentriert durch seinen Körper wandern, aber das Sitzen ist die wohl häufigste Haltung. Und dann konzentriert man sich auf seinen Atem. Ein und aus. Ein und aus. Wo und wie spüre ich ihn? Das geht eine Zeit lang meist ganz gut, dann wird der Geist wandern. Und nun geht es darum, immer wieder zum Atem zurückzukehren, die Aufmerksamkeit zu fokussieren.

Man soll ja beim Meditieren an nichts denken.
Das ist ein großes und weit verbreitetes Missverständnis. An nichts denken zu wollen ist Unsinn.

Warum?
Weil das nicht geht und der Versuch deshalb frustriert. Wir produzieren ununterbrochen Gedanken.

Im Video: Mit Zazen-Übungen zur Ruhe kommen 

Stimmt. Ich habe bei meinen Meditationsversuchen immer gedacht: Jetzt bloß nicht an irgendwas denken. Und dann ist mir aufgefallen, dass das ja auch schon ein Gedanke ist.
Eben. Es geht darum, die Gedanken zuzulassen, das Denken bewusst wahrzunehmen, die Gedanken dann aber wieder vorüberziehen zu lassen. Ihnen keine große Aufmerksamkeit zu schenken und so den Kontakt zum Körper nicht zu verlieren. Es gibt da eine schöne Metapher: Lass die Kühe auf die große Weide.

Das soll uns was sagen?
Du stellst dir vor, dass du auf einer großen Weide sitzt. Und die Gedanken sind die Kühe. Die sind da, und du lässt sie da einfach sein. Vertreib sie nicht, dann werden sie unruhig. Lass sie einfach rumlaufen. Irgendwann ziehen sie weiter, weg aus deinem Blickfeld.

Gibt es einen idealen Zeitpunkt am Tag, um zu meditieren?
Der ideale Zeitpunkt ist der, der es mir ermöglicht, es regelmäßig täglich zu machen. Denn die Regelmäßigkeit ist zentral. Für viele ist das der frühe Morgen. Aber das ist kein Muss. Manche meditieren, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen oder in der Mittagspause.

Wie lange muss man täglich meditieren, damit es wirkt?
Das ist für viele die zentrale Frage. Wenn man den auf der ganzen Welt praktizierten achtwöchigen MBSR-Kurs des oben schon erwähnten Jon Kabat-Zinn macht, dann meditiert man mindestens eine halbe Stunde täglich, besser 45 Minuten. Aber das erscheint vielen zu lang und muss aus meiner Sicht auch nicht unbedingt sein.

Was heißt MBSR?
Das ist die Abkürzung für „Mindfulnessbased stress reduction“. Man kann das mit „Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion“ übersetzen. Kabat-Zinn war in den 70er Jahren der Erste, der Meditation im klinischen Kontext ohne buddhistische Bezüge eingesetzt hat. Mit großem Erfolg.

Ist die Abkürzung MBSR eine Art Gütesiegel im Zusammenhang mit Meditation?
Das kann man so sehen. Der Kurs, den Kabat-Zinn entwickelt hat, ist ein absoluter Klassiker. Es ist die mit Abstand am besten wissenschaftlich untersuchte Meditationsmethode auf der ganzen Welt. Auch meine App bezieht sich sehr auf seine Erkenntnisse und Methoden. Nicht nur, aber zu großen Teilen. Wer an Meditation interessiert ist und sich nicht auskennt, macht mit einem MBSR-Kurs nichts falsch. Aber, wie gesagt, man muss sich hier auf die Zeitvorgaben einlassen.

Ich habe diesen Kurs gemacht und fand ihn super, doch die 30 bis 45 Minuten täglich habe ich dann zu Hause einfach nicht hingekriegt. Das wird anderen ähnlich gehen. Noch mal: Wie lange muss man mindestens meditieren, um eine nachhaltige Wirkung zu spüren?
Man muss hier vielleicht noch erklären, dass Jon Kabat-Zinn seine Methode für die Behandlung von Schmerzpatienten entwickelt hat. Verzweifelte Leute mit hohem Leidensdruck und großer Bereitschaft, Dinge auszuprobieren. Da war dieser hohe Zeitaufwand sicher notwendig. Aber das ist ja nicht der Normalfall. Die meisten Leute suchen etwas, um besser mit sich und dem Leben klarzukommen. Und da sind zehn Minuten Meditation am Tag auch schon mal was.

Und die wirken?
Ja, auch das haben Studien bestätigt. Zwei Einheiten je zehn oder zwölf Minuten am Tag morgens und abends sind aus meiner Sicht ein guter Anfang. Aber eines ist klar: Je länger wir meditieren, desto größer und nachhaltiger ist die Wirkung. Aber man sollte sich von den 45 Minuten nicht einschüchtern oder vom Meditieren abhalten lassen. Die Regelmäßigkeit ist erst einmal wichtiger als die Dauer.

Und nach wie vielen Wochen spüre ich Ergebnisse?
Manche spüren schon nach ein paar Tagen etwas. Das ist schön, aber ich rate zur Geduld. Dranbleiben und nicht schon nach einer Woche aufgeben, weil die Haltung zur Welt noch immer die gleiche ist. Acht Wochen muss man grundsätzlich schon durchhalten, um nachhaltig Veränderungen zu spüren.

Gibt es eigentlich die richtige Meditationskleidung? Muss ich sackartige Gewänder tragen?
Nee, sackartig ist nicht nötig. Bequeme Kleidung, in der man sich wohlfühlt, ist gut. Sie können aber auch in einer viel zu engen Hose meditieren. Dann können Sie lernen, mit Schmerz umzugehen. Aber das ist was für Fortgeschrittene.

Schmerz ist ein gutes Stichwort. Abgesehen vom Zeitaufwand war und ist mein Hauptproblem die richtige Haltung beim Meditieren. Wenn ich liege, schlafe ich ein, und wenn ich im Schneidersitz hocke, schlafen mir die Beine ein. Gelassenheit fühlt sich anders an.
Ich empfehle eine Haltung, in der ich entspannt und wach sein kann. Der Schneidersitz ist nicht unbedingt nötig. Man kann sich auch aufrecht auf einen Stuhl setzen.

Aber auch in dieser Position kribbelt und juckt es irgendwann. Wie gehe ich damit um?
Nicht überbewerten. Wir versuchen beim Meditieren ja ein gleichbleibendes, wohlwollendes und akzeptierendes Bewusstsein zu kultivieren. Ich kann also, wenn es juckt und kribbelt, einfach interessiert feststellen, dass das jetzt stattfindet und gerade so ist.

Und dann?
Dann kann ich mir sagen: „Aber was passiert, wenn ich jetzt weiter still hier sitze und das einfach hinnehme? Ich versuche es einfach mal.“ Genau darum geht es ja bei der Meditation: nicht jedem unangenehmen Gefühl sofort mit Vermeidung zu begegnen. Was aber nicht heißt, sich eine halbe Stunde mit einer unbequemen Haltung zu quälen. Irgendwann ist es natürlich auch mal gut mit dem Hinnehmen. Man fängt ja nicht als buddhistischer Meister an.

Ich kämpfe beim Meditieren nicht nur mit unbequemer Haltung und aufdringlichen Gedanken. Es kommen oft auch Gefühle hoch. Und nicht immer angenehme. Wie gehe ich damit um? Auch ignorieren?
In diesem Punkt bin ich etwas anderer Meinung als mancher Meditationslehrer. Die Sätze „Ich sitze hier und habe Gedanken. Aber ich bin nicht meine Gedanken“ – die sind richtig. Aber der Satz „Lass die Gefühle einfach vorbeiziehen“ erscheint mir problematisch. Ich halte es für nötig, Gefühle wie Angst oder Trauer erst einmal zu spüren und sie nicht als unwichtig abzutun. Da kommt etwas aus den Tiefen meines Bewusstseins hoch, das mir etwas sagen will. Und da kann ich schon auch mal hinhören oder besser „hinspüren“, um mich damit auseinanderzusetzen. Jede Emotion ist auch eine Information. Und auf die kann ich, statt sie wegzuschieben, mit einer liebevollen Haltung zugehen.

Und was mache ich dann nach der liebevollen Begrüßung des unangenehmen Gefühls?
Ein guter Weg ist zunächst, die Gefühle im Körper zu erkunden. In Gedanken verstricke ich mich oft zu sehr. Also spüren, zulassen und feststellen: Es geht mir nicht so gut. Auch das ist okay. Morgen ist es vielleicht schon wieder besser. Die krampfhafte Abwehr von unangenehmen Gefühlen ist nicht selten ein entscheidender Faktor für die Aufrechterhaltung von Angst und Depression.

Wie sind Sie selbst zum Meditieren gekommen?
Vor zwölf Jahren war ich mal ein bisschen niedergeschlagen. Es war Winter, ich war mitten im Diplom-Studiengang Psychologie und etwas gestresst. Irgendwann surfte ich im Internet und stieß auf einen Vortrag des buddhistischen Mönchs und Wissenschaftlers Matthieu Ricard über dessen Meditationserfahrungen. Das sprach mich an, und ich suchte mir schnell den ersten Kurs hier in Berlin. So fing es an. Und irgendwann war ich so begeistert, dass ich mein weiteres Studium und meine spätere wissenschaftliche Arbeit ganz diesem Thema widmete.

Die Meditations-App BALLOON

von und mit Boris Bornemann enthält eine ständig wachsende Zahl von geführten Audio-Meditationen für Anfänger und Fortgeschrittene. Sie wird von einer Tochter des Medienhauses Gruner und Jahr vertrieben, in dem auch der stern erscheint. Kosten: 11,90 Euro monatlich. Jahresabo: 79,90 Euro

Sind Sie Buddhist?
Nein, ich bin religiös nicht verortet. Vieles am Buddhismus ist mir sympathisch, aber ich bleibe gern außerhalb festgefügter Rahmen. So bleibt man offen.

Jetzt sind Sie selbst ein Lehrender.
Ja, ich versuche, das, was ich gelernt und erforscht habe, in meinen Kursen und meiner App „Balloon“ wissenschaftlich fundiert, aber ohne religiöse Bezüge weiterzugeben. Mein Wunsch ist es, dass die Menschen, die Bedingungen, um glücklich zu sein, in sich selbst entdecken und dann fördern.

All das ist also eigentlich schon in uns?
Ja, es ist paradox. Wir alle haben als Kinder oft in einer Art entspannter Konzentration gespielt und die Welt um uns vergessen. Auch das ist Achtsamkeit. Als Erwachsene haben wir das meist verlernt. Das, was wir so ersehnen und sozusagen „herstellen“ wollen, nämlich Bewusstheit und Gewahrsein – das ist eigentlich schon da. Es war und ist immer noch in uns. Aber wir brauchen Übungen, um uns damit wieder zu verbinden. Und das lehre ich in meinen Kursen.

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