Dieser Artikel erschien zuerst auf brigitte.de.
Ich sitze mit einer Freundin im Park, zwischen uns 1,5 Meter Abstand und zwei Bier. Ich treffe meine Eltern im Garten wieder, es gibt Sekt in der Sonne. Meine Kollegin im Videocall erzählt vom Homeoffice mit Zwillingen, sie deutet vielsagend auf ihr Weinglas. „Ist ja eine Ausnahmesituation“, „Fühlt sich wie Urlaub an“, „Das habe ich mir nach der Anstrengung verdient“, sind die Sätze, die ich zu diesen Situationen und zahlreichen anderen ständig höre – und selbst sage. Das Coronavirus hat nicht nur einen Schleier des Stillstands verhängt, sondern auch einen leichten Schauer des Alkohols über uns ergossen.
Müde und leicht neben der Spur sind wir ohnehin, bei all den Sinneseindrücken und Nachrichten, die wir verarbeiten müssen. Da macht ein wenig Rammdösigkeit von einem oder zwei Gläschen Wein auch keine Unterschied mehr – außer, dass wir vermeintlich besser einschlafen.
Fotograf Lois Hechenblaikner
Dieses Buch zeigt uns: Ischgl war schon immer die Vorhölle – auch vor Corona
Der Corona-Schwipps
Die Coronakrise verändert die Menschen. Studien finden heraus, was wir schon wissen: Dass manche Leute Alkohol als Mittel des Stressabbaus nutzen. Und Gfk-Konsumforscher bestätigen, dass der Absatz von Alkohol in den letzten Monaten gestiegen ist. Diese Informationen sind wenig überraschend, oder?
Jetzt haben wir aber langsam ein Problem. Denn während wir vor einigen Wochen noch düster scherzten, nun zu Alkoholikern zu werden, entwickelte sich die Coronakrise vom Ausnahme- zum Dauerzustand. Und damit dauerte unser selbstauferlegter Urlaub im Homeoffice plötzlich Wochen statt Tagen, bald Monate statt Wochen – und vermutlich auch noch ein ganzes Jahr. Währenddessen hat sich der Gewöhnungseffekt nicht nur in puncto Leben mit der Pandemie, sondern auch mit dem Gläschen Alkohol eingeschlichen. Stimmt nicht? Na, dann überleg doch mal, an wie vielen Tagen du die letzten zwei Wochen getrunken hast. Ertappt.
„Das ist ja schonmal super, wenn das überhaupt auffällt“, weiß Dr. Peter Strate zu beruhigen. Er ist Chefarzt der Asklepios-Klinik für Abhängigkeitserkrankungen in Hamburg-Ochsenzoll und weiß, wieso die Menschen – inklusive ihm und mir – gerne Alkohol trinken:
Wenn man Stress hat, im Beruf oder mit den Kindern, dann ist Alkohol super für ein subjektives Gefühl der Entspannung. Sie grübeln nicht mehr so viel nach, sorgen sich nicht mehr.
Auch als besagtes Einschlafmedikament würde das Gläschen wunderbar helfen – de facto werde die Nachtschlafqualität aber gestört. Und wir wachen gerädert auf. Schon hier weiß Dr. Strate einen besseren Trick, der simpler kaum sein könnte: Ablenkung.
Ablenkung statt Alkohol
„Wenn die üblichen Kompensationsmechanismen, wie z.B. Sport, zu kurz kommen, steigt der Alkoholkonsum. Wenn ich aber genug Ablenkung habe, dann kann ich auch nachts gut schlafen“, rät der Chefarzt. Also statt dem Feierabendbier ein Lauf um den Block. Notiert.
Morgens um 7
Frau trinkt Bier am Steuer – während hinten im Schulbus 32 Kinder sitzen
Aber was, wenn man sich doch dem Alkohol hingibt? Wie schützt man sich in Corona-Zeiten vor einer Abhängigkeit?, will ich von Dr. Strate wissen. Er erzählt mir seine persönliche Strategie: „Ich habe aus meiner Tätigkeit gelernt, dass ich keine Routine im Alkoholkonsum habe. Die Kunst besteht darin, sich nicht mit Alkohol zu belohnen“. Das Essen schmecke ihm auch ohne den obligatorischen Wein, das Feierabendbier sei für Entspannung ohnehin kontraproduktiv – lieber gönne er sich ab und zu einen Gin Tonic. Und dann auch gerne mal zwei.
Wie oft ist zu oft?
Die Menge sei übrigens ein zweiter Faktor zum Thema Suchtrisiko, wie ich von Dr. Strate lerne. Zwar sei die RKI-Grenze von täglich höchstens 10-12 Gramm Alkohol pro Frau kaum einzuhalten, wenn mal mehr als ein Gläschen getrunken würde. Der Krux sei jedoch das gezielte Berauschen: „Binge-Drinking sollte nicht öfter als einmal im Monat stattfinden“.
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Wie sieht es mit dem Gläschen ohne Rausch aus? Ich frage Dr. Strate nach der 5-2-Regelung, von der ich gehört habe: An fünf Tagen die Woche solle man nüchtern bleiben, an zweien könne man Alkohol trinken. Er lacht. Tatsächlich sei die Empfehlung sogar andersherum: Mindestens zwei Tage die Woche sollte man nichts trinken. So oder so: Auch das solle vor allem Routinen vorbeugen. Stattdessen gibt mir Dr. Strate einen anderen Merksatz an die Hand. Ein Warnsignal – zu Corona-Zeiten und im Alltag – sei, „wenn man morgens als erstes an das Glas Bier oder Wein am Abend denkt“. Puh, Glück gehabt. Ich denke nur an Kaffee – eine andere Baustelle, aber immerhin unalkoholisch.
Regelmäßigkeit und Menge sind die zwei Risikofaktoren, die mir im Kopf bleiben. Trotzdem gehe ich entspannt aus dem Telefonat. „Wir können nicht immer nur Verzicht üben“, zeigt sich Dr. Strate in unserem Gespräch milde. Schließlich sei das Leben auch zum Genießen da. Selbst bei Omas 90. mal einen über den Durst zu trinken, sei normal – aber der würde ja auch nicht täglich gefeiert.
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