Gesundheit

Überwachung von Corona-Mutanten: Herr Harzer, wird in Deutschland genug sequenziert?

Lange Zeit hinkte Deutschland bei der Genom-Sequenzierung hinterher. Während in England und Dänemark jede zehnte positive Sars-CoV-2-Probe sequenziert wurde, war es in Deutschland nur jede Tausendste. Im Januar wurde dann festgelegt, dass künftig das Genom von fünf bis zehn Prozent aller positiven Proben in Deutschland sequenziert werden sollen. Auch bei der Bioscientia, wo Sie, Herr Harzer, Leitender Arzt und Geschäftsführer sind, werden Analysen durchgeführt. Warum sind diese notwendig?

Durch die Sequenzierungen können wir nachverfolgen, wie sich das Virus auf genetischer Ebene verändert. Dass sich die Erbinformation verändert, ist normal, das passiert bei allen Lebewesen. Von Sars-CoV-2 kennen wir inzwischen etliche Varianten, die ein bisschen anders aussehen und andere Eigenschaften haben als der Wildtyp. Manche dieser Änderungen werden klinisch wichtig.

Nur wenige Unternehmen in Deutschland können solche Voll-Genom-Sequenzierungen vornehmen. Warum?

Wir zerlegen das Virus in viele kleine Einzelteile, vervielfältigen diese, lesen sie aus und führen sie später wieder zusammen. Die Erbinformation ist aufgebaut wie ein Text. Vereinfacht gesagt, nehmen wir eine Textseite, machen aus dieser viele kleine Schnipsel, bei Sars-CoV-2 sind es etwa 30.000 Bausteine, markieren und vervielfältigen diese und lesen sie dann Buchstabe für Buchstabe aus. Später werden diese Schnipsel wie ein Puzzle wieder zusammengesetzt. Das ist die Königsdisziplin. Diese Arbeit ist sehr komplex. Sie erfordert nicht nur eine spezifische Geräteausstattung, sondern vor allem den Gehirnschmalz hochqualifizierter Mitarbeiter. Unser großes Glück und Privileg ist es, dass wir labormedizinisch und infektiologisch sehr gut aufgestellt sind, eine große genetische Abteilung und Bioinformatik im Haus haben und die Teams unkompliziert zusammenführen konnten.

Wie lange dauert es, bis eine solche Voll-Genom-Sequenzierung durchgeführt ist?

Muss eine Probe ganz schnell gemacht werden, bekommen wir das von Probeneingang bis zur Ergebnisübermittlung in zwei bis drei Tagen auf die Reihe. Im Durchschnitt brauchen wir im Moment etwa fünf Tage. Die Kits, die wir für die Sequenzierung benötigen, sind relativ teuer. Je mehr Proben auf den Platten sind, desto günstiger wird es. Daher versuchen wir wenigstens 192, 384 oder idealerweise 768 Proben auf einer Platte zu haben. Bei uns ist das ganz gut möglich, weil wir Proben aus ganz Deutschland bekommen.

Mittlerweile haben wir es nicht mehr nur mit dem Wildtyp zu tun, sondern auch mit diversen Varianten. Einige wie Delta, die in Indien entdeckt wurde und in Großbritannien bereits vorherrschend ist, werden als "Variants of Concern" eingestuft. Sind fünf Tage schnell genug, wenn es darum geht, zu entdecken, ob sich eine solche Variante auch in Deutschland ausbreitet?

Die Sequenzierung ist für die tägliche Diagnostik nicht von Relevanz. Die Infektion selbst wird über PCR festgestellt. Die Betroffenen und die Kontaktpersonen wissen schnell, ob sie in Quarantäne müssen. Ab Probeneingang haben wir in vier bis acht Stunden ein Ergebnis. Die Varianten-Typisierung mit einer zweiten PCR klärt, ob es sich um eine Infektion mit einer bestimmten Variante handelt. Das dauert noch einmal etwa acht Stunden. Die Voll-Genom-Sequenzierung hat mehr wissenschaftlichen, epidemiologischen Wert. Sie muss innerhalb von zehn Tagen ans Robert Koch-Institut übermittelt werden, also innerhalb der Quarantänezeit. Entscheidend ist beim Sequenzieren, dass wir die Varianten rausfischen, die möglicherweise Eigenschaften entwickeln, die das Virus gefährlicher machen. Diese Arbeit steht im Gegensatz zu dem, was schnell gehen muss. Die Sequenzierung stellt die Hintergrundüberwachung sicher.

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Wie lange dauert es, bis man sieht, dass eine neue Variante Ärger macht, sich schnell verbreitet?

Wir sehen das relativ zügig. Das beste Beispiel ist die Variante, die in Großbritannien entdeckt wurde. Vor Weihnachten gab es diese in Deutschland nur vereinzelt, im Januar betrug ihr Anteil drei bis vier Prozent, im Februar waren es schon 20 oder 30 Prozent. Sobald wir sehen, dass der Anteil einer Variante unter den Neuinfektionen steigt, können wir die Varianten-Typisierungen vornehmen. Parallel dazu werden dann die Eigenschaften der Variante untersucht.

Wird in Deutschland genug sequenziert?

Gibt es mehr als 70.000 Neuinfektionen pro Woche, werden 5 Prozent der positiv Getesteten Voll-Genom-sequenziert. Liegen die Fallzahlen darunter, nehmen wir 10 Prozent. Dazu kommt, dass auch die Gesundheitsbehörden bei einem Ausbruchsgeschehen anordnen können, dass alle Infizierten eines Clusters zusätzlich sequenziert werden. Für eine Grundüberwachung reicht das vollkommen aus. Unter den von uns gemeldeten über 20.000 Proben haben wir 203 verschiedene Virus-Stämme gefunden, aber weiterhin sind nur vier sogenannte "Variants of Concern" von Interesse. Viele Varianten setzen sich nicht durch und verschwinden schnell wieder.

In manchen Teilen der Welt spielt die Sequenzierung kaum eine Rolle. Insgesamt wurden auf GISAID bis zum 10. Mai von den bis dato 152 Ländern nur Daten von 1 Prozent der Fälle gemeldet. Die meisten gemeldeten Daten stammen von zehn reichen Ländern. Die Sequenzierungsdaten aus Ländern wie Indien und Brasilien beliefen sich auf 0,1 Prozent. Müssten reichere Länder Geld in die Hand nehmen, damit dort mehr sequenziert werden kann? Schließlich kommen die Varianten, die dort entdeckt werden auch zu uns.

Könnten wir in diesen Ländern Mutationen schneller erkennen, wenn mehr sequenziert würde? Möglicherweise ja. Die Sequenzierung ist aber der zweite Schritt, oftmals hakt es schon beim ersten. In vielen dieser Länder wird nicht erkannt, wer krank ist und wer nicht, da nicht alle Infizierten per PCR getestet werden können. Es fehlen Geräte-, Personal- und finanzielle Kapazitäten. Dort müsste man ansetzen, bevor es an die Sequenzierung geht. Allerdings wenden sich die Gesundheitsbehörden dieser Länder, zumindest wenn es dort keinen repressiven Umgang mit der Wahrheit gibt, im Zweifel relativ schnell an die Institute in den reicheren Ländern, stehen mit den Kollegen im Austausch und schicken auch Proben. Ist so eine Variante identifiziert, wissen auch die Politiker hierzulande, dass ein "Fiesling" auf uns zukommt und können im Zweifel Schutzmaßnahmen anpassen.

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In westlichen Ländern steigen die Impfquoten, während ärmere Länder leer ausgehen. Schneiden wir uns mit diesem Vorgehen irgendwann ins eigene Fleisch?

Man muss sich das schon vor Augen halten: Mutationen können sich auch in der gut durchgeimpften Bevölkerung bilden. Das Virus ist immer danach bestrebt, sein Überleben zu sichern. Wenn hier durch Impfung ein sogenannter Selektionsdruck aufgebaut wird, dann werden wir in Deutschland vielleicht auch ein veränderndes Virus produzieren. Außerdem kann man sich auch trotz Impfung noch infizieren, auch wenn man vielleicht nicht systemisch krank wird. Das ist keine sterile Impfung.

Im Sommer gehen die Infektionszahlen eher runter. Virologe Christian Drosten meinte neulich, dass der saisonale Effekt etwa 20 Prozent ausmacht. Welche Bedeutung haben Sequenzierungen gerade mit Blick auf Herbst und Winter?

Die Voll-Genom-Sequenzierung ist eine präventive Maßnahme, um Virusänderungen vorzeitig zu erkennen. Sie kann dazu beitragen, die nächste Wintersaison ­– auch aus epidemiologischer Sicht – vorzubereiten. Damit, wenn wieder so ein neuer "Bad Boy" um die Ecke kommt, dieser schnell erkannt wird und im schlimmsten Fall zu den bewährten Maßnahmen gegriffen werden kann oder auch die Impfstoffe angepasst werden können. Dafür ist die Sequenzierung wesentlich.

Die zweite Jahreshälfte ist die Zeit, in der schon mit einem Nachlassen der Impfwirkung zu rechnen ist. Sind wir dafür gewappnet?

Das ist eine Frage an die Impfstoffhersteller.Es steht mir nicht zu, mich dazu zu äußern.Wenn man davon ausgeht, dass wir den Kollegen frühzeitig die Detailinformationen über die Erbinformationen der Viren liefern können, also das Handwerkzeug, damit sie ihre Impfstoffe entsprechend anpassen können, dann, Biontech-Gründer Uğur Şahin sagte das bereits, wäre eine Impfstoff-Anpassung schnell möglich. Die Impfstoffhersteller haben ja auch ihre Kapazitäten ausgebaut. So wie ich die Zusammenarbeit der verschiedenen Bereiche, Voll-Genom-Sequenzierung, weitere wissenschaftliche Grundlagenforschung und Arbeit der Impfstoffunternehmen, im vergangenen Jahr erlebt habe, bin ich persönlich ganz optimistisch, dass wir gewappnet sind.

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