Gesundheit

Zurück zum Mörser – Mahlen statt Lösen als ein neuer Ansatz

Nachhaltig, umweltfreundlich und mit einem vergleichsweise kleinen CO₂-Fußabdruck – in einem EU-Forschungsprojekt sucht die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) nach Methoden, die Arzneimittelproduktion grüner zu machen als bisher.

Nitrofurantoin ist ein antibiotisch wirkendes Arzneimittel zur Therapie von Harnwegsinfektionen. Hergestellt wird (E)-1-[(5-Nitrofurfuryliden)­amino]imidazolidin-2,4-dion (so der systematische Name des organochemischen Wirkstoffs) in der Regel, indem man es in mehreren Schritten aus Chloressigsäure und Hydrazin als Grundsubstanzen und späterer Zugabe von Kaliumcyanat und 5-Nitrofurfural synthetisiert. Im letzten Schritt reagieren Aminohydantoin und 5-Nitrofurfural miteinander zum gewünschten Produkt. 

Derzeit findet diese letzte Reaktion in großen Mischern statt, in denen die Substanzen in Lösemitteln miteinander reagieren. Eine britische Studie aus dem Jahr 2022 konnte aber zeigen, dass der gleiche Schritt sich mit deutlich weniger Müll, Chemikalienverbrauch und Emissionen auf einem mechanischen Weg erreichen lässt. 

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Möglich ist dies mithilfe eines sogenannten Doppelschneckenextruders, in dem die Chemikalien durch gegenläufige Schnecken miteinander vermengt werden. Mechanochemie nennt sich dieser Zweig der Chemie, der bislang zu Unrecht eher ein Nischendasein fristet – jedenfalls bei der Arzneimittelproduktion.

Forscher aus sieben EU-Ländern beteiligt

In einem EU-Projekt mit dem Namen IMPACTIVE (das steht für „Innovative Mechanochemical Processes to synthesise green ACTIVE pharmaceutical ingredients“) unter Leitung der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) soll nun in den kommenden vier Jahren erforscht werden, wie sich mit der Mechanochemie künftig Arzneimittel und ihre Grundstoffe deutlich nachhaltiger produzieren lassen als mit den derzeit verwendeten Methoden. Denn diese basieren in der Regel auf organisch-chemischen Reaktionen in verschiedenen Lösemitteln und belasten die Umwelt – durch Müll und Rückstände, die bei den mehrstufigen Prozessen anfallen und etwa ins Abwasser gelangen. Außerdem sind sie eine Umweltbelastung durch den hohen Energieverbrauch für das Erhitzen und Mischen der Lösungen sowie nicht zuletzt durch die oft problematischen organischen Lösemittel selbst. Damit verbunden ist neben der Umweltbelastung auch ein enormer CO₂-Fußabdruck.

Das Projekt soll daher den Weg ebnen zu einer umweltfreundlicheren, nachhaltigen und idealerweise sogar klimaneutralen Produktion von Arzneimitteln, erklären die BAM-Forscher. Beteiligt sind an dem Projekt neben dem BAM als Leitung die Université de Montpellier in Frankreich, das Center for Colloid and Surface Science CSGI in Italien, die Radboud Universiteit in den Niederlanden, die Université Catholique de Louvain in Belgien, das Trinity College Dublin in Irland, das Technion in Israel sowie aus Deutschland die RWTH Aachen und das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr.

Energie für chemische Reaktionen aus mechanischer Energie

Bei der Mechanochemie stammt die benötigte Energie für die chemischen Reaktionen überwiegend aus der mechanischen Kraft, die bei Verfahren wie dem Kugelmahlen, Resonanzmischen oder eben beim Vermengen in Schneckenextrudern eingesetzt wird. Auf das Zuführen von thermischer Energie oder auf Lösungsmittel könne man dabei weitgehend verzichten, beschreiben die Forscher. Bis zu 85 Prozent weniger CO₂-Emissionen in der Pharmaproduktion und weniger Ökotoxizität ließen sich so erreichen, außerdem noch geringere Herstellungskosten, zeigte eine erst kürzlich durchgeführte israelische Studie.

„Dem Prinzip nach ist das Verfahren schon seit Jahrhunderten bekannt und wird seit mehreren Jahren von Wissenschaftlern für die Synthese unterschiedlicher Materialien eingesetzt. Die in Laboren entwickelte Technologie muss jetzt den Sprung in die Industrie schaffen, daran arbeiten Chemiker auf dem ganzen Globus. Bisher behindert aber ein mangelndes Verständnis der genauen mechanistischen Vorgänge eine breite Anwendung der Methode. Das liegt vor allem daran, dass die Reaktionen sich sehr schwer beobachten und systematisieren lassen. So bleibt das volle Potenzial der Mechanochemie unausgeschöpft“, erklärt die Privatdozentin Franziska Emmerling, die am BAM die Abteilung Materialchemie leitet.

Wirkstoffe aus der Krebsmedizin, Antidiabetika und Blutdrucksenker im Projekt

Sechs pharmazeutische Wirkstoffe aus den Bereichen der Krebsmedizin, Antidiabetika und Blutdrucksenker will man im Pilotmaßstab ganz ohne Lösungsmittel herstellen, das ist das Ziel der IMPACTIVE-Forscher. „Wir haben an der BAM sogenannte zeitaufgelöste Methoden entwickelt, mit denen sich die Reaktionen exakt beobachten und beschreiben lassen“, erklärt die in der BAM am Projekt beteiligte Forscherin Lucia Casali. „In einem Benchmarking wollen wir anschließend die Vorteile der Mechanochemie gegenüber herkömmlichen Verfahren im Pharmabereich aufzeigen.“

Welche Wirkstoffe man sich nun genau vornehmen will, sei derzeit noch unter Verschluss: „Zum jetzigen Zeitpunkt können wir noch keine genauen Angaben über die Art der untersuchten pharmazeutischen Wirkstoffe machen, die im weiteren Verlauf des Projekts offengelegt werden. Bisher können wir sagen, dass der synergetische Beitrag sowohl der akademischen als auch der industriellen Partner, die an IMPACTIVE beteiligt sind, die Wahl der ausgewählten Wirkstoffe geleitet hat, meist in Übereinstimmung mit ihrer Schlüsselrolle bei chemischen Reaktionen und Umwandlungen, die für die pharmazeutische Industrie von großem Interesse sind, zusammen mit der Möglichkeit, direkt auf sie zuzugreifen“, erklärt Emmerling.

Mechanische Empfindlichkeit der Wirkstoffe ist meist kein Hindernis

Das größte Hindernis für die Mechanochemie sei aktuell noch die genaue Vorhersagbarkeit und Dosierung der mechanischen Reaktionen. „Die mechanische Empfindlichkeit ist typischerweise kein Hinderungsgrund. Eine ganze Reihe von Pharmazeutika sowie wichtige Schritte der organischen Synthese konnten mittels Mechanochemie realisiert werden“, erklärt Emmerling. Die wichtigste Grenze der Mechanochemie sei eben das bislang noch unzureichende mechanistische Verständnis der beteiligten Umwandlungen im festen Zustand. „Da die Reaktionen außerhalb der kinetischen und thermodynamischen Regeln der konventionellen Lösungschemie ablaufen können, ist es schwierig, das Ergebnis solcher Reaktionen vorherzusagen“, sagt die Forscherin. 

„Als Reaktion darauf haben wir hier an der BAM zeitaufgelöste In-situ-Methoden entwickelt, mit denen sich die mechanochemischen Reaktionen in Echtzeit verfolgen lassen, hauptsächlich mithilfe der Röntgenbeugung. Indem wir nun bislang unzugängliche Informationen über Reaktionszwischenprodukte, neue Produkte oder die Reaktionszeit erhalten, kommen wir einem besseren Verständnis des mechanistischen Verhaltens näher. Da die Regeln dieser Chemie immer klarer werden, stellen die neuen Reaktionswege der Mechanochemie keine Beschränkung mehr dar, sondern einen Vorteil, der der pharmazeutischen Industrie viele Möglichkeiten eröffnet“, sagt die Naturwissenschaftlerin.

Neue Techniken erleichtern Verfahren

Mit der Entwicklung neuer mechanischer Techniken und einem tieferen Verständnis des mechanistischen Verhaltens hinter den mechanochemischen Reaktionen stelle eine mechanische Empfindlichkeit von Wirkstoffen kein wirkliches Problem mehr dar. „Tatsächlich weiß man heute, dass es möglich ist, das Ausmaß der mechanochemischen Auswirkungen durch Änderung der Mahlparameter wie Material der Mahlbecher und -kugeln, Menge des katalytischen Lösungsmittels, Häufigkeit des Mahlens und so weiter erheblich zu modulieren. Wenn die Mahlkugeln immer noch zu stoßend sind, ist es außerdem möglich, empfindliche Materialien mithilfe von Extrudern oder RAM (Resonant Acoustic Mixing) zu bearbeiten, Methoden, die keine zusätzlichen Mahlwerkzeuge erfordern“, erklärt sie.

Die unzureichende Kenntnis des mechanistischen Verhaltens schränke allerdings die Untersuchung unerforschter und unbekannter Reaktionen ein, da es immer noch eine Herausforderung sei, das mechanochemische Verhalten mit der starken Voreingenommenheit der Lösungschemie zu rationalisieren. Aber es gebe viel Forschung in dieser Richtung, sagt Emmerling.

Großtechnische Umsetzung soll erforscht werden

Im Projekt wolle man vor allem mithilfe der Mechanochemie eine organische Synthese von Wirkstoffen durchführen, die als Reaktion in Lösung bereits weithin bekannt seien. Die sollen dann mit dem Ziel verglichen werden, die Vorteile der mechanochemischen Methode gegenüber der traditionellen Methode in Bezug auf Ausbeute, Reaktionszeit, Toxizität und so weiter herauszustellen, erläutert die Forscherin.

Außerdem gebe es auch Wirkstoffe, die sich überhaupt nur mit den Mitteln der Mechanochemie herstellen ließen. Die Mechanochemie habe sich in den vergangenen Jahren als ein leistungsfähiges Werkzeug erwiesen, um kristalline Formen zu erhalten, die sonst nicht zu erhalten wären. „Ein aktuelles Beispiel in der Literatur ist Sofosbuvir, für das Argyro Chatziadi und Mitarbeiter (Universität Prag) gezeigt haben, dass polymorphe Umwandlungen nur mechanochemisch induziert werden. Da dies nur ein Beispiel von mehreren ist, über die in der Literatur berichtet wird, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die pharmazeutische Industrie die lösungsbasierten Methoden durch die Mechanochemie ergänzt, um das kristalline Verhalten besser untersuchen zu können“, sagt Emmerling.

Vom Labor in die Industrie

Was allerdings im Pilotprojekt noch im Labormaßstab machbar ist, wäre dann zukünftig noch auf den großtechnischen Maßstab der Industrie zu übertragen. „Ausweitung mechanochemischer Methoden auf die Großproduktion ist keine leichte Aufgabe, aber in den vergangenen Jahren hat die mechanochemische Gemeinschaft die richtigen Voraussetzungen geschaffen, um die Industrie beim ökologischen Übergang zu unterstützen. Im Jahr 2019 finanzierte die COST-Aktion die europäischen Projekte MechSustInd und Greenering mit dem Ziel, die Kluft zwischen Wissenschaft und Industrie zu überbrücken und so solide Netzwerke für den Austausch von Wissen und Expertise zu bilden. Die industrielle Umsetzung neuer mechanochemischer Methoden erfordert Investitionen und Innovationen, aber der solide Hintergrund der beteiligten Partner wird helfen, alle Herausforderungen zu bewältigen und die weitere Forschung in die richtige Richtung zu lenken“, sagt Emmerling.

Umsetzung innerhalb von zehn Jahren erhofft

Da die Einführung mechanochemischer Verfahren in der Großproduktion eine Renovierung und einen Paradigmen- und Know-how-Wechsel erfordere, müssten die bestehenden Produktionsanlagen erheblich umgerüstet werden. „Die Unternehmen müssen die etablierten chemischen Prozesse modifizieren und ihre derzeitige Ausrüstung in den Anlagen durch Kugelmühlen und andere mechanochemischen Geräte ersetzen. Auch wenn einige Unternehmen bereits Mühlen und Extruder im industriellen Maßstab einsetzen, erfordern diese Änderungen dennoch Investitionen in Geld und Zeit, insbesondere weil neue Methoden zur Herstellung von Wirkstoffen von den staatlichen Aufsichtsbehörden genehmigt werden müssen. Der ökologische Übergang zur Mechanochemie kann also in der Anfangsphase recht anspruchsvoll und zeitaufwendig sein, aber jede Innovation durchläuft eine solche Phase, sonst wäre sie ja nicht von vornherein eine Innovation“, sagt die Forscherin.

Es sei aber ein Ziel von IMPACTIVE, mechanisch-chemische Prozesse zu entwickeln, die in der pharmazeutischen Industrie effektiv eingesetzt werden könnten, sagt sie. 

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