Der Anblick einer Spinne lässt die Frau erschaudern. Weil sich in ihre Wohnung aber kaum Spinnen verirren, hat sie praktisch keinen Kontakt zu ihnen. Ihre Arbeit kann sie gut ausführen, und ihr Alltag ist nicht beeinträchtigt. Ist sie nun neurotisch? Wahrscheinlich. Braucht sie eine Therapie? Sofern sie sich nicht belastet fühlt: nein.
Viele Menschen zeigen irgendwelche Auffälligkeiten. Entscheidend dafür, ob sie sich in Behandlung begeben sollten, sind andere Dinge.
Der im Volksmund immer noch gern gebrauchte Begriff der Neurose ist unter Fachleuten mittlerweile umstritten. Früher unterschieden Psychiater zwischen Neurosen und Psychosen.
- Als Neurosen wurden eine ganze Reihe von Verhaltensauffälligkeiten im Zusammenhang mit frühkindlichen Konflikten bezeichnet.
- Demgegenüber standen die Psychosen, schwerwiegende seelische Störungen, zu denen etwa Wahn oder Manien zählten.
Unter Psychiatern wurden beide Begriffe inzwischen abgelöst, erklärt Isabella Heuser, Chefärztin der Psychiatrie an der Berliner Charité. Heute sprechen sie einfach von psychischen Störungen. Wobei nicht jeder Mensch mit einer Störung behandelt werden muss.
Über die Therapie entscheiden Arzt und Patient gemeinsam
„Etwa 30 Prozent der Menschen erfüllen irgendein Diagnosekriterium einer psychischen Störung, längst aber nicht alle sind behandlungsbedürftig“, sagt Henning Schauenburg, Psychosomatiker und Psychoanalytiker am Universitätsklinikum in Heidelberg. Gleichzeitig gibt es Symptome, die mit den gängigen Kriterien nur schwer zu fassen sind, die den Patienten aber belasten und im Alltag einschränken.
Es ist deshalb der Leidensdruck, der zumindest mitentscheidet, ob therapiert werden sollte. „Wer unter seinen Auffälligkeiten nicht leidet, der wird sich kaum in Behandlung begeben. Und kommt auch gut ohne aus“, sagt Heuser. Ganz ohne Diagnosekriterien geht es trotzdem nicht. Es muss eine Art Regelwerk geben, um festzustellen, was als nicht mehr normal anzusehen ist. Erst das ermöglicht eine Therapiefinanzierung durch Krankenkassen.
Ob eine Therapie infrage kommt, entscheiden letztlich Arzt oder Therapeut und Patient gemeinsam. Professionell beraten lassen sollte sich, wer seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann oder sich darin deutlich beeinträchtigt fühlt. Wenn vermehrt Beziehungen scheitern, Freundschaften nur oberflächlich bleiben und im Job große Schwierigkeiten auftauchen.
Wer sich seelisch belastet fühlt, kann als erste Anlaufstelle den Hausarzt konsultieren oder gleich einen Psychotherapeuten oder einen Facharzt für Psychiatrie oder Psychosomatik aufsuchen.
Empfindlich ist nicht gleich krank
Dass jemand ein bisschen empfindlich ist – emotional labil, wie das in der Fachsprache heißt – muss indes kein schlechtes Zeichen sein. Psychologen ordnen diese Persönlichkeitseigenschaft dem sogenannten Neurotizismus zu. „Der Neurotizismus gibt an, wie sensibel Menschen auf Stress reagieren“, erklärt Eva Asselmann, Postdoc am Institut für Psychologie an der Humboldt-Universität in Berlin. „Sind Sie auf der Skala weit oben, reagieren Sie empfindlich: nervös, reizbar und ängstlich“, so die Psychologin.
Das geht zwar einerseits einher mit einem erhöhten Risiko für Depressionen und Angststörungen. Es heißt aber nicht, dass man zwingend eine psychische Störung bekommt. „Auch wer weit oben auf der Skala ist, kann gesund sein“, sagt Asselmann. Ein hoher Wert könnte sogar von Vorteil sein, ergänzt Heuser. Diese Menschen hätten meist auch ausgeprägte soziale Fähigkeiten wie etwa Empathie.
Um zu verhindern, dass aus Empfindlichkeit doch ein Problem wird, ist es wichtig, sich ein gutes Umfeld zu schaffen. „Was uns stabil hält, wissen wir doch alle“, sagt Schauenburg: „Eine ausfüllende Beschäftigung, eine tragfähige Partnerschaft und gute Freunde.“ Die wirklich schwierige Frage ist allerdings: „Wie komme ich da hin?“ Eine universelle Antwort darauf gibt es leider nicht.
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