Die Bedürfnisse von Eltern und Kitas gehen in Coronazeiten bisweilen weit auseinander: Wenn die Eltern ihr Kind nicht in die Betreuung geben können, droht Ärger mit dem Arbeitgeber. Die Kita-Leitungen wiederum wollen dagegen so vorsichtig wie nötig agieren, um eine Verbreitung des Coronavirus zu verhindern und nicht zuletzt auch das eigene Personal zu schützen. Die Folge: Vielerorts beklagen Eltern und Kinderärzte, dass sie ihre Kinder bereits wegen Lappalien – ein einzelner Nieser oder eine Schniefnase reicht aus – abholen müssen und die Kleinen erst mit einem Gesundheitsnachweis zurückdürfen.
Virologe
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So hat etwa Jakob Maske, der Berliner Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), in einem „Welt“-Interview von Eltern berichtet, die in seiner Praxis auftauchen und um ein Gesundheitsattest bitten, da der Nachwuchs sonst nicht zurück in die Einrichtung dürfe. „Wir erklären den Eltern dann, dass das medizinisch völliger Unsinn ist, bei Schnupfen einen Arzt aufzusuchen“, sagt Maske und weist daraufhin, dass die Einforderung eines Gesundheitsattests laut Infektionsschutzgesetz nur bei wirklich schwerwiegenden Erkrankungen vorschreibe, zu denen etwa Hepatitis A und E, Borkenflechte, Krätze, Cholera oder Typhus gehören würden. Mittlerweile hat der Berliner Senat eine Handreichung veröffentlicht, in der es heißt, dass für die Wiederaufnahme eines Kindes in der Kita kein Attest erforderlich ist.
Kinderärzte sorgen sich vor der Infektzeit im Herbst
Im Rest der Republik sieht es ähnlich aus. Der stern fragte bei weiteren BVKJ-Sprechern an, die bestätigten mehrheitlich die Aussagen und Einschätzungen ihres Kollegen aus der Hauptstadt.
Der Tenor:
Erwin Ackermann, BVKJ-Sprecher im Landesverband Nordrhein, teilt etwa mit: „Wir erleben genau die gleichen Fragen, Sorgen und Unzufriedenheiten der Eltern und die gleichen Unsicherheiten bei den Erzieherinnen. Auch bei uns werden Kinder in großem Umfang wegen Lappalien von der Kita nach Hause geschickt.“
Einen konzertierten Austausch mit den Kitas gebe es nicht, das berichten auch viele der weiteren Befragten. Immerhin habe man im Zusammenwirken mit der Landesregierung in NRW eine Regelung erreicht, die eine Gesunderklärung durch die Eltern nach 48 Stunden ermögliche. Eine solche Regelung würde sich sein Kollege Dominik Ewald für Bayern ebenfalls wünschen. Auch er berichtet von etlichen Fällen, in denen Kinder wegen einer Schniefnase oder einem Schnupfen nach Haus geschickt wurden und dann getestet werden müssen. „Normalerweise bleiben diese zwei Tage zu Hause, dann können sie wieder in den Kindergarten. Jetzt müssen sie zu uns in die Praxen“. Bis zum Test-Ergebnis vergehen dann zwei Tage, in denen das Kind nicht in die Kita und ein Elternteil möglicherweise nicht arbeiten kann.
Kinderärzte sind auf Aussagen der Eltern angewiesen
Seine sächsische Sprecher-Kollegin Melanie Ahaus, Kinderärztin aus Leipzig, weiß von Kindern, die nach Hause geschickt wurden, weil sie sich geräuspert hatten. Die Eltern würden dann verzweifelt in der Praxis stehen und eine Gesundschreibung verlangen. Aber, so die Medizinerin: „Es liegt nach wie vor in der Verantwortung der Eltern zu entscheiden, ob ihr Kind gesund oder krank ist. Der Kinderarzt sieht das Kind in der Regel nur für wenige Minuten und ist ohnehin auf die Einschätzung und Aussagen der Eltern angewiesen.“ Eine Gesundschreibung sei völlig unsinnig, denn der Kinderarzt könne ja nicht ahnen, ob das Kind am nächsten Tag, wenn es wieder in die Einrichtung soll, immer noch gesund ist – oder sich nicht sogar in der Praxis oder auf dem Weg mit einem Erreger neu infiziert habe. Und: Die Behandlung der eigentlich gesunden Kinder, koste Zeit, die bei Patienten, die wirklich Hilfe brauchen, fehlen könnte.
Eltern sollen gesetzlich entlastet werden
Die Eltern wiederum könnten durch eine Gesetzesänderung entlastet werden, regt Till Reckert, Kinderarzt in Reutlingen und Sprecher des Landesverbands Baden-Württemberg, an. Derzeit sieht das Sozialgesetzbuch für Eltern insgesamt 20 bezahlte Krankentage für jedes Kind vor. Dies könne zum Beispiel dahingehend novelliert werden, dass sich in Pandemiezeiten von nationaler Tragweite der Anspruch verdreifache, schlägt er vor. Ansonsten, so gibt Michael Achenbach vom BVKJ-Landesverband Westfalen-Lippe zu bedenken, verbrauchen die Eltern nun schon im Sommer sämtliche Kind-Krankentage, die sie gegebenenfalls aber später, in der Infektzeit im Herbst und Winter, viel dringender brauchen würden. Dann bleibt im Zweifel nur die Möglichkeit, unbezahlten Urlaub zu nehmen. „Wir sehen mit größter Sorge Richtung Herbst“, so der saarländische Sprecher und Kinderarzt Benedikt Brixius aus Neunkirchen. Denn: Im Herbst beginnt die Erkältungssaison. Brixius warnt: „Bleibt diese Regelung, so wird von Oktober bis April kein Kind mehr in den Kindergarten gehen können“.
Der Wunsch: Mehr Gehör der Verantwortlichen
Die Mediziner setzen auf den Austausch mit den Kitas und der Politik, um die Situation vor Ort bestmöglich zu händeln. Sie suchen aktiv den Kontakt und bieten Informationen an. Die nationale, vom RKI vorgegebenen Teststrategie sehen viele von ihnen kritisch. Die Empfehlung lautet, bei jeder Form von Atemwegsbeschwerden einen Corona-Test zu machen. „Das ist schwierig, denn Kinder sind ständig krank“, so Reckert. Außerdem sei der nötige Abstrich für die Kinder extrem unangenehm und ein negativer Test schließe eine Erkrankung darüber hinaus nicht aus. Sein Bremer Kollege Torsten Spranger pflichtet bei: Das bringe ebenso wenig einen Erkenntnisgewinn wie etwa die in Bayern versprochene Testung von Jedermann. Andererseits solle jedes Kind mit gravierenden Atemwegsbeschwerden wie einer Pneumonie oder auch Geschmacksstörungen im Einzelfall einen Test erhalten. Wichtig sei: „Wir müssen uns bis in die Infektsaison im Herbst und Winter in unseren Praxen wieder strukturiert auf jede Form von Krankheit und Betreuung von Entwicklungsstörungen konzentrieren dürfen, anstatt mit Attesten und Gesundschreibungen beschäftigt zu werden.“
Zudem wünschen sich die Kinderärzte für das Erarbeiten von praktikablen Lösungen mehr Gehör von den Verantwortlichen aus Politik und Wissenschaft, etwa dem Robert Koch-Institut. Man stehe als Facharzt vor Ort zwar in der ersten Phalanx bei der Infektionsbekämpfung, werde aber bei der Frage nach der richtigen Strategie nicht gefragt, lautet die Kritik zusammengefasst. Die Verantwortlichen hätten dagegen häufig nur in der Forschung, nie aber in der Praxis gearbeitet.
Der Güstrower Kinderarzt Steffen Büchner, BVKJ-Sprecher für Mecklenburg-Vorpommern, sagt: „Wir können durch gesteckte Rahmenbedingungen und fortführende Testungen bei wirklich kranken Kindern helfen, bis dahin unentdeckte Ausbrüche frühzeitig zu erkennen und im Zusammenspiel mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst einzudämmen, ohne an einem Patientenstrom von faktisch gesunden Kindern zu ersticken.“
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