Mit den strengeren Corona-Regeln kommt auch wieder die moralische Frage auf: Sollte ich jemanden bei der Polizei anschwärzen, der sich nicht an die Beschränkungen hält? Die Autorin dieses Textes findet, nein. Redakteur Sebastian Tohrst sieht das ganz anders, seine Gegenmeinung lesen Sie hier.
Corona hat mich in eine zeigefingerschwingende Spießerin verwandelt. Wer seine Nase aus der Maske hängen lässt, erntet von mir einen strengen Blick. Wer sich in der Bahn neben mich setzt: dramatisches Augenrollen, bevor ich mich demonstrativ wegsetze. Und wer in der Schlange zu nah an meinem Rücken steht, den bitte ich streng, Abstand zu halten. Doch auch in meiner neu entdeckten Spießigkeit gibt es einen Abstand, der mir noch wichtiger ist als den zu meinem schniefenden Nebenmenschen im Supermarkt: den Abstand zur Polizei.
Anfang der Woche hatte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach gegenüber der "Rheinischen Post" erwägt, Kontrollen in Privatwohnungen einzuführen, wenn dort verbotene Feiern stattfinden. "Wie Lärmstörung in der Nacht", ergänzte er später auf Twitter. Damit legitimierte er die Petzerei: Das haben wir schließlich schon immer so gemacht! Nur: Wegen Ruhestörung und anderer Lappalien bei der Polizei anzurufen war auch schon vor Corona uncool.
Folgen der Krise
Das Virus macht nicht alle gleich – es macht genau das Gegenteil
Denn egal, wie unsolidarisch Zusammenkünfte und Feiern in der Pandemie gegenüber der Gesellschaft auch sein mögen: Die Polizei ist immer auch das mindestens übernächste Level auf der Eskalationsstufe. Ein "nach oben Eskalieren", das zu schlimmeren Situationen führen könnte als einem zu lauten Britney-Spears-Song nach Mitternacht oder einer Geburtstagsfeier bei den Nachbarn. Vielleicht sogar zu mehr Eskalation, zu Gewalt und langfristigen Folgen für die Verpfiffenen.
Corona-Maßnahmen befolgen sollten alle, doch das geht oft auch ohne Polizei
Ja, er nervt, der Vollpfosten im dritten Stock, der auch nach sieben Monaten Corona-Pandemie nicht verstanden hat, dass die Regeln zum Schutz aller da sind. Er ist ignorant, unreif, egoistisch. Vielleicht sogar ein schlechter Mensch. Vielleicht einer, der es verdient zu erfahren, wie sich ein Wasserrohrbruch anfühlt. Natürlich sollte er sich wie alle anderen bemühen, die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie einzuhalten.
Und doch gibt so viele andere Möglichkeiten, ihm das mitzuteilen, als ihn bei den Behörden zu verpfeifen: ein schnippischer Zettel im Briefkasten, ein nächtlicher Besuch vor der Party-Wohnungstür, eine dramatische Ansprache im Treppenhaus (mit Abstand und Maske!).
Ein Freund hat mir zu Anfang der Pandemie erzählt, wie seine Hausärztin ihn wegen des fehlenden Mund-Nasen-Schutzes gemaßregelt hat. Damals trug man die Maske noch nicht überall. "Ich schütze Sie und Ihre Gesundheit. Wollen Sie nicht das Gleiche für mich tun?" Das hat meinen Freund nachdenklich gemacht. Zwei Polizisten vor seiner Tür hätten das womöglich nicht.
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