Mindestens 28.000 fehlende Todesfälle in den Statistiken
Eine Analyse deckte auf, dass in elf untersuchten Ländern mindestens 28.000 Menschen im letzten Monat mehr gestorben sind, als in den Statistiken verzeichnet wurde. Bei Berücksichtigung dieser Fälle zeigt sich auch eine sogenannte Übersterblichkeit im Rahmen der COVID-19-Pandemie. Unter den untersuchten Ländern befinden sich beispielsweise Spanien, England, Frankreich, Niederlande, Belgien und die Türkei.
Die New York Times berichtet, dass im März 2020 mindestens 28.000 Menschen mehr gestorben sind, als bisher in den Statistiken verzeichnet. Die Zeitung veröffentlichte die Sterblichkeitsdaten aus 11 Ländern und zeigt ein klares, wenn auch noch unvollständiges Bild von den bislang nicht bemerkten Auswirkungen der Corona-Krise.
Übersterblichkeit wird noch nicht korrekt abgebildet
Analysten der New York Times zeigten, dass die weltweiten Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie sich derzeit noch nicht korrekt in den gängigen Sterblichkeitsstatisiken widerspiegeln. Die Daten seien aufgrund der Pandemie nicht zuverlässig. Dies erkläre die entdeckte Diskrepanz zwischen den offiziellen COVID-19-Todeszahlen und dem tatsächlichen Gesamtanstieg der Todesfälle. In einigen Ländern und Städten werde nun die sogenannte Übersterblichkeit besonders deutlich, wie folgende Übersicht zeigt (Quelle New York Times, Stand: 22.04.2020):
- Spanien: Todeszahlen gesamt: 19.700; COVID-19-Todesfälle: 12.401; Übersterblichkeit: 66%
- Frankreich: Todeszahlen gesamt: 14.500; COVID-19-Todesfälle: 8.059; Übersterblichkeit: 32%
- England: Todeszahlen gesamt: 16.700; COVID-19-Todesfälle: 10.335; Übersterblichkeit: 33%
- New York: Todeszahlen gesamt: 17.200; COVID-19-Todesfälle: 13.240; Übersterblichkeit: 298%
- Niederlande: Todeszahlen gesamt: 4.000; COVID-19-Todesfälle: 2.166; Übersterblichkeit: 33%
- Schweiz: Todeszahlen gesamt: 1.000; COVID-19-Todesfälle: 712; Übersterblichkeit: 21%
- Istanbul: Todeszahlen gesamt: 2.100; COVID-19-Todesfälle: 1.006; Übersterblichkeit: 29%
Übersterblichkeit beinhaltet alle Todesursachen
Die New York Times betont, dass es sich bei den nicht verzeichneten Todesfällen nicht zwangsweise um COVID-19-Tote handeln muss. Auch alle anderen Ursachen für Todesfälle sind in diesen Zahlen enthalten. Das unklare Bild ergebe sich dadurch, dass die meisten Länder nur Covid-19-Todesfälle melden, nicht aber die Anzahl aller Todesfälle.
Vergleich mit der Grippe hinkt
Bei Grippe-Epidemien ist ebenfalls längst nicht jeder gezählte Grippe-Todesfall laborbestätigt. Hier wird die Übersterblichkeit im Zeitraum der Grippe-Saison der Epidemie zugesprochen.
Insgesamt sprechen die nun veröffentlichten Zahlen gegen die Vorstellung, dass viele Menschen ohnehin bald auch ohne das Virus gestorben wären. Laut der New York Times sterben derzeit in Paris beispielsweise doppelt so viele Menschen wie üblich und weitaus mehr als zum Höhepunkt einer Grippesaison. In New York City sei die Zahl jetzt sogar viermal so hoch wie gewöhnlich.
Die gemeldeten Zahlen sind grob unterschätzt
„Welche Zahl auch immer an einem bestimmten Tag gemeldet wird, wird eine grobe Unterschätzung sein“, betont Tim Riffe vom Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Deutschland gegenüber der New York Times. Es gebe einige Orte, an denen die Pandemie schon lange und intensiv genug läuft, um späte Todesfallregistrierungen mit zu berücksichtigen, sodass sich langsam ein genaueres Bild abzeichnet, wie hoch die Sterblichkeit wirklich ist, so Riffe.
Späte Reaktion ist mit besonders deutlichen Ausmaß verbunden
Die Analyse zeigte auch einen deutlichen Unterschied zwischen den Ländern, die früh auf die Pandemie reagiert haben und den Ländern, die zunächst keine Maßnahmen ergriffen haben. Istanbul verzeichnete zum Beispiel vom 9. März bis 12. April rund doppelt so viele Todesfällen wie erwartet (+ 2.100 über dem Durchschnitt). Dies allein sind doppelt so viele Todesfälle, wie die Regierung als COVID-19-Tote in diesem Zeitraum gemeldet hat.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Anstieg der Todesfälle Mitte März deutlich wurde. Dies deutet darauf hin, dass viele der Verstorbenen sich bereits im Februar infiziert haben – also mehrere Wochen bevor die Türkei den ersten COVID-19-Fall anerkannt hat.
Verzögerungen bei den Todesmeldungen
In einigen Ländern wie Belgien und Frankreich arbeiten die Behörden daran, Todesfälle im Zusammenhang mit COVID-19, die sich außerhalb von Krankenhäusern ereignen, in ihre Tagesberichte mit aufzunehmen. Andere Behörden wie das britische Office for National Statistics haben damit begonnen, Sterblichkeitsdaten nach der Bearbeitung von Sterbeurkunden zu veröffentlichen, um diejenigen zu ermitteln, die mit Covid-19 im Zusammenhang stehen. Dies liefert eine genauere Darstellung der Sterblichkeit als die von Public Health England veröffentlichten Zahlen, allerdings verzögern sich die Daten um rund zwei Wochen.
Es ist gewöhnlich, dass Sterblichkeitsdaten mit Verzögerung veröffentlicht werden. Aufgrund der Dringlichkeit der momentanen Situation bemühen sich jedoch viele Behörden darum, umfassendere und zeitnahe Informationen zu liefern. Die Daten sind laut der New York Times dennoch begrenzt und unterschätzt, da nicht alle Todesfälle gemeldet wurden.
Erste Abweichungen auch bei EuroMomo sichtbar
Die ersten Abweichungen von den normalen Sterbemustern sind nun auch in dem „European Mortality Monitoring Project“ (EuroMomo) zu erkennen. Das Projekt zeigt die wöchentliche Mortalitätsdaten aus 24 europäischen Ländern. Die hier gezeigte Entwicklung unterliegt einer Verzögerung, was dazu führte, dass sich viele Menschen darüber wunderten, dass die allgemeine Sterblichkeit nicht ansteigt.
„In diesem Stadium handelt es sich um eine partielle Momentaufnahme“, erklärt Patrick Gerland, ein Demograf bei den United Nations. Es sei eine Sicht auf das Problem, dass die aktuelle Situation aus Sicht eines krankenhausbasierten Systems widerspiegelt. In den nächsten Monaten werde sich dies aber ändern und ein klareres Bild werde möglich sein, unterstreicht Gerland gegenüber der New York Times.
Es hätte noch schlimmer kommen können
„Der heutige Anstieg der Gesamtmortalität findet unter Bedingungen außerordentlicher Maßnahmen statt, wie soziale Distanzierung, Abriegelung, geschlossene Grenzen und verstärkte medizinische Versorgung, von denen zumindest einige positive Auswirkungen haben“, ergänzt Vladimir Shkolnikov vom Max-Planck-Institut für demographische Forschung. Es sei sehr wahrscheinlich, dass ohne diese Maßnahmen die Zahl der Todesopfer noch höher wäre. (vb)
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