Gesundheit

Erst dann Corona-Lockerungen möglich: Das steckt hinter Merkels 10-Tages-Regel

Angela Merkel hat am Wochenende klar gemacht, wann aus ihrer Sicht die Corona-Beschränkungen gelockert werden können: Wenn die Verdoppelung der Fallzahlen zehn Tage dauert. Doch warum ist diese Zahl so wichtig? FOCUS Online hat mit Experten darüber gesprochen.

Eine Woche nach ihrer Einführung ist kein schnelles Ende der Kontaktbeschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Sicht. „Wir brauchen alle Maßnahmen unvermindert“, betonte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag in Berlin. Solange sich die Ausbreitung des Virus in Deutschland nicht deutlich verlangsamt, will die Bundesregierung keinen Zeitplan für eine schrittweise Rückkehr zur Normalität vorlegen. Weitere Verschärfungen sind zunächst aber ebenfalls nicht geplant.

„Noch geben uns die täglichen Zahlen der Neuinfektionen leider keinen Grund, nachzulassen oder die Regeln zu lockern“, sagte Angela Merkel in ihrem Wochenend-Podcast. Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) hatte dem „Tagesspiegel“ gesagt: „Wir reden jetzt bis zum 20. April nicht über irgendwelche Erleichterungen.“

Verdopplungszeiten sollen „in Richtung zehn Tage“ gehen

Außerdem nannte die Kanzlerin eine Zahl, die ganz entscheidend wird: Die Verdopplungszeit bei den Neuinfektionen müsste „in Richtung zehn Tage“ gehen. Kanzleramtsminister Braun hatte von „zehn, zwölf oder noch mehr Tagen“ gesprochen.

„Die Verdopplungszeit benennt die Anzahl der Tage, in der sich die Anzahl der Infizierten verdoppeln. Je kürzer diese ist, je schneller verbreitet sich das Virus“, erklärt dazu Dietrich Rothenbacher, Direktor des Instituts für Epidemiologie an der Universität Ulm und stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) im Gespräch mit FOCUS Online.

„Am Anfang lag diese in Deutschland bei etwas über zwei Tagen – nun liegt sie bei über fünf. Da könnte ein Hinweis auf die Wirksamkeit der Maßnahmen sein.“ Genau würde man das aber erst in einigen Tagen wissen, da die Zahlen dem eigentlichen Infektionsgeschehen immer eine Woche oder länger hinterherhinken. 

Der Professor für Epidemiologie erklärt weiter: „Würde sich beispielsweise Covid-19 ungebremst mit der dem Virus eigentümlichen Dynamik in einer Population verbreiten, käme es zu einem exponentiellen Anstieg von Infizierten und auch an Erkrankten.“ Das bedeute: Selbst wenn nur zwei von 100 eine Behandlung auf der Intensivstation benötigten, wären die Kapazitäten sehr schnell erschöpft.

„Je länger die Verdopplungszeit, umso besser lassen sich notwendige Maßnahmen auch planen. Bei zehn Tagen Verdopplungszeit kann von einer gewissen Kontrolle der Verbreitung ausgegangen werden.“

Neuinfektionen müssen sich verlangsamen, damit unser System nicht kollabiert

Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin führt dazu aus: „Die zehn Tage sind nur ein erster Wert. Denn eine Verdopplung von 50.000 auf 100.000 Fälle ist absolut gesehen für das Gesundheitssystem eine geringere tägliche Neu-Belastung als von 100.000 auf 200.000 (nach 20 Tagen), von 200.000 auf 400.000 (nach 30 Tagen) oder von 400.000 auf 800.000 (nach 40 Tagen) und so weiter“.

Das bedeute: Um die Belastung absolut gleich zu halten, müsste sich das Ziel der zehn Tage dann auch immer weiter strecken – auf 20 Tage, 40 Tage, et cetera.

Konkret rechnet er vor: Um von 50.000 auf (nur) 100.000 zu kommen, darf es pro Tag nicht mehr als 5.000 Neuerkrankte geben. Das entspreche in etwa der aktuellen Zahl der täglichen Neuinfektionen, „dabei beobachten wir etwa 150 zusätzliche Patienten auf der Intensivstation.“ Die Anzahl der Intensivpatienten sei so allerdings nicht gesetzt, da nicht alle Krankenhäuser ihre Daten an das bundesweite Register DIVI meldeten: „Es könnten bis zu 200 sein.“

Nach etwa 40 Tagen wäre unsere aktuelle Kapazitätsgrenze erschöpft

Wie lange ein Patient auf der Intensivstation liegen muss, ist laut Busse ebenfalls noch nicht bekannt, es gebe aber Vermutungen: „Wir schätzen zehn Tage.“ Das sei ein Mittelwert, der sich daraus ergibt, dass manche Patienten relativ schnell versterben, andere hingegen länger als zehn Tage dort liegen und sich erholen.

„Das bedeutet, dass für die 5.000 Neuerkrankten am Tag etwa 1.500 bis 2.000 Intensivtage einzuplanen sind.“

Geht man von den genannten 150 bis 200 neuen Intensivpatienten aus, wäre das laut Busse derzeit noch machbar. Auch 3.000 bis 4.000 (im zweiten Zehntageszeitraum) oder 6.000 bis 8.000 (im dritten Zehntageszeitraum) oder gerade noch 12.000 bis 16.000 (im vierten Zehntageszeitraum). Dann stoßen die Intensivbetten in unseren Krankenhäusern aber an ihre Kapazitätsgrenzen. Im Umkehrschluss erklärt Busse: „Wenn die Verdoppelungszeiten kürzer sind, geht es entsprechend schneller.“

Die Plattform „DIVI-Intensivregister“ gibt flächenübergreifend deutschlandweit einen Überblick, wo gerade freie Kapazitäten bestehen und welche Leistungen dort möglich sind. Etwa 12.000 Intensivbetten für invasive Beatmung wären nach überschlägigen Berechnungen sofort oder schnell für weitere, neue Fälle verfügbar. Das Register krankt noch daran, dass nur 60 bis 70 Prozent der Kliniken für dieses digitale Echtzeit-Modell Daten liefern.

Wenn Intensivversorgung nicht mehr reicht, kann das Menschenleben kosten

Das bedeutet, dass Deutschland aktuell etwa 12.000 Menschen, bei denen Covid-19 einen schweren Verlauf nehmen würde, behandeln könnte. Sollten mehr Menschen erkranken, müssten die Ärzte das sogenannte Triage-Verfahren anwenden und anhand verschiedener Kriterien entscheiden, wer die lebensrettenden Maßnahmen erhält und wer nicht. Dieses Szenario gilt es um jeden Preis zu vermeiden. Mit den aktuell gültigen Ausgangsbeschränkungen versucht man, es so lange wie möglich hinauszuzögern.

Die Bundesregierung sei „zahlengeleitet unterwegs“, hieß es auf Anfrage von FOCUS Online. Man will auf jeden Fall acht bis zwölf Tage abwarten, um zu sehen, was die bisher beschlossenen Einschnitte konkret bringen. Weitere Voraussetzung für Lockerungen: In hohen Berliner Regierungskreisen hatte es zuletzt geheißen, es müsse eine höhere Testkapazität geben als aktuell, und es müsse ein „lückenloses Tracking“ der Kontakte der Infizierten möglich sein. Ob es um ein wirkliches Tracking geht, in dem Orte erfasst werden, an denen Betroffene sich aufhalten, oder nur um ein „Tracing“ – ein Verfolgen der Spuren von Infizierten – wurde im Detail noch nicht besprochen.

Mittwoch gibt es wieder eine Schalte zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten, bei der die Spitzen von Bund und Ländern beraten. Dass hier schon erste Lockerungen besprochen werden, ist auszuschließen.

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