Händewaschen, Alltagsmasken und Abstandsregeln: Zum Schutz vor dem Coronavirus gibt es viele Empfehlungen. Ein mögliches Ansteckungsrisiko wird nach Ansicht von Wissenschaftlern bislang aber zu wenig beachtet: die Übertragung durch sogenannte Aerosole. Dabei handelt es sich um Gemische aus festen oder flüssigen Schwebeteilen, die in der Raumluft stehen bleiben. Im Fachjournal „Clinical Infectious Diseases“ fordern rund 240 Forscher deshalb dazu auf, das Risiko der Luftübertragung ernster zu nehmen als bisher. Die Kritik der Forscher richtet sich primär an Behörden, öffentliche Gesundheitsorganisationen und die Weltgesundheitsorganisation WHO.
Lockerungsdiskussion
Warum das Maskentragen ein Zeichen für eine faire und gerechte Gesellschaft ist
Bekannt ist, dass einige Viren wie Windpocken oder Masern durch Aerosole in der Raumluft übertragen werden können. Hält sich eine infizierte Person für längere Zeit in einem geschlossenen Raum auf, stößt sie beim Atmen oder Sprechen kleinste Partikel aus, die in der Raumluft schweben. Über diese kann sich eine nachfolgende Person anstecken – ohne dass die Menschen jemals persönlichen Kontakt hatten. Unklar ist, ob solche Ansteckungen auch bei dem aktuellen Coronavirus auftreten. Als gesichert gilt, dass gemeinsam genutzte Raumluft zu einer Übertragung führen kann – darauf deuten Ansteckungen bei Chorauftritten und in Restaurants hin. Auch spezielle Umluft-Anlagen wie sie in Schlachtbetrieben verwendet werden, scheinen das Infektionsrisiko zu erhöhen.
Die Forscher argumentieren, dass es zu allen Übertragungswegen des Coronavirus wenig Evidenz gäbe. Das gelte auch für die Tröpfchen- und Schmierinfektion, auf die aktuelle Schutzmaßnahmen abzielen. Die Empfehlungen sollten daher aktualisiert und das Aerosol-Risiko stärker in den Blick genommen werden, fordern die Wissenschaftler, die überwiegend aus den Bereichen Chemie, Physik und Engineering stammen. Eine Ansteckung über Schwebepartikel könnte etwa durch eine gute Raumbelüftung oder das Vermeiden von Ansammlungen in geschlossenen Räumen und öffentlichen Verkehrsmitteln verhindert werden.
Zeit für „pragmatische Entscheidungen“
Isabella Eckerle von der Abteilung für Infektionskrankheiten an der Universität Genf war selbst nicht an der Publikation beteiligt und warnt davor, die Diskussion auf einer ausschließlich akademischen Ebene zu führen. Es sei nun wichtig, „pragmatische Entscheidungen zu treffen – mit dem, was wir über das Virus wissen“.
Das Coronavirus sei kein klassischer Aerosol-übertragener Erreger wie Masern oder Windpocken, so Eckerle. „Diese Erreger sind extrem ansteckend und können sehr lange in der Luft überdauern. Man kann sich noch anstecken, wenn man einen Raum betritt, in dem sich Stunden zuvor ein Erkrankter aufgehalten hat, ohne dass man diesem Erkrankten jemals persönlich begegnet ist. Ein solches Szenario ist bei Sars-CoV-2 nicht anzunehmen.“
Im Vergleich zu den Anfangstagen der Epidemie gibt es nun mehr Wissen darüber, wie sich der Erreger verbreitet. Zu Beginn der Epidemie sei die Übertragung über Oberflächen „wohl etwas überschätzt“ worden, so die Expertin. Die Übertragung durch die Nähe zu Erkrankten und die gleiche Raumluft dagegen etwas unterschätzt. „Wir haben nun viele Situationen beschrieben, wo es in Innenräumen zur Übertragung gekommen ist – Familienfeiern, Chorprobe, Sportstudio – und diesen Situationen muss jetzt bei der Prävention besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.“
WHO-Aufruf „dringend geboten“
Professionelle Filtermasken können eine Ansteckung über Aerosole zwar verhindern. Eine Empfehlung für diese Art von Masken in der Bevölkerung sei jedoch nicht „sinnvoll“ oder „umsetzbar“, so Eckerle. Vielmehr gehe es darum, Superspreading-Events in geschlossenen Räumen zu verhindern.
„Räumlichkeiten müssen regelmäßig gelüftet werden, nicht zuletzt auch Klassenzimmer, Zimmer in Altenheimen und Krankenzimmer“, betont Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin am Münchner Klinikum Schwabing. „Weitere Maßnahmen wären Luftfilteranlagen und die Anwendung von UV-Licht zur Keimzahlreduktion durch Aerosole – besondere Maßnahmen, die zumindest in vulnerablen Bereichen wie Kliniken und Altenheimen anzustreben sind.“
Wendtner bedauert, dass es noch keine generelle Warnung der WHO zu Corona-Infektionen durch Aerosole gibt. „Angesichts immer noch steigender globaler Infektionszahlen bei gleichzeitiger Umsetzung von Lockerungsmaßnahmen in manchen Ländern wäre ein Aufruf der WHO zum Schutz vor Sars-CoV-2-haltigen Aerosolen wünschenswert und aus wissenschaftlicher Sicht dringend geboten.“
Das Robert Koch-Institut (RKI) verweist in der aktuellen Fassung seines Coronavirus-Steckbriefes bereits auf eine mögliche Ansteckung durch Aerosole: „Hauptübertragungsweg für Sars-CoV-2 ist die respiratorische Aufnahme virushaltiger Flüssigkeitspartikel, die beim Atmen, Husten, Sprechen und Niesen entstehen“, heißt es darin. Und weiter: Der längere Aufenthalt in „kleinen, schlecht oder nicht belüfteten Räumen“ könne das Ansteckungsrisiko erhöhen, auch wenn der Mindestabstand von zwei Metern eingehalten werde. Übertragungen an frischer Luft kämen dagegen „selten“ vor. Die Konzentration virenbehafteter Partikel in der Luft wird durch den Wind schnell vermindert.
Quellen: „Clinical Infectious Diseases: It is Time to Address Airborne Transmission of COVID-19″ / Zitate nach Science Media Center / Robert Koch-Institut
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