Gesundheit

Unbekannte Gefahr: Wie stille Entzündungen unseren Körper krank machen

Am hellen Sonnenschein oder am strahlenden Verlauf der Jamaika-Verhandlungen hat es nicht gelegen, dass der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) Ende Oktober auf dem Balkon der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft mit einer Sonnenbrille erschien. Vielmehr wollte er sein linkes Auge schützen. Es war entzündet. Seit mehreren Wochen schon litt Bouffier unter einer Infektion der Nerven in seiner linken Gesichtshälfte. Die Erkrankung hatte seine Mimik verzerrt und nun auch das Auge erfasst.

Ein Schnitt in den Finger, ein Atemzug voller Schnupfenviren, ein verdorbenes Essen: Täglich gelangen Millionen bedrohlicher Mikroben in unseren Körper. Meist hält unser Immunsystem sie in Schach, ohne dass wir es registrieren. In schlimmeren Fällen reagiert es heftiger, mit einer Entzündung: Die fremdartige Zelloberfläche der Mikroben lockt weiße Blutkörperchen an, die die Eindringlinge bekämpfen und Botenstoffe ausschütten, die weitere Abwehrzellen aktivieren. Es kommt zu den vier typischen Entzündungssymptomen: Die betroffene Körperstelle wird heiß, rötet sich, schwillt an und schmerzt. Ist die Gefahr gebannt, fährt das Immunsystem seine Aktivität wieder herunter. Normalerweise.

Die typischen Symptome fehlen

Denn nicht immer schaltet sich das Entzündungsprogramm wieder vollständig ab. Oft schwelt es als stille Entzündung im Körper weiter, ohne dass sich die vier typischen Symptome zeigen – ob im Zahnfleisch oder in den Lymphknoten, im Darm oder im Gehirn, in einem Gelenk oder auf der Haut.

Diese auch stille Inflammation genannte Reaktion läuft meist ab, ohne dass die Betroffenen es bemerken. Umso dramatischer sind die möglichen Folgen des unterschwelligen Dauerfeuers: Sie reichen von Herzinfarkt, über Diabetes und Gelenkschäden bis hin zu neurologischen Erkrankungen und sogar Krebs.

„Eine stille Entzündung ist nicht plötzlich da. Sie entwickelt sich sehr langsam und wird dann oft erst bemerkt, wenn bereits Folgeerkrankungen auftreten. In diesem Stadium sind stille Entzündungen in der Regel chronisch und fortschreitend“, sagt Karsten Krüger, Professor für Sport und Gesundheit an der Universität Hannover.

Der stille Feind in meinem Körper

Scorpio Verlag

In seinem Buch „Der stille Feind in meinem Körper“ beschreibt Krüger, was bei einer stillen Entzündung geschieht. Die Abwehrzellen des Immunsystems setzen unter anderem reaktionsfreudige Sauerstoffradikale frei, die nicht nur eingedrungene Mikroben bekämpfen, sondern auch gesundes Gewebe schädigen können. Langfristig verändern sich dadurch beispielsweise die inneren Wände der Blutgefäße. Betroffene sind dadurch anfälliger für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall.

Und je länger die entzündlichen Attacken andauern, umso größer ist auch die Gefahr bleibender Schäden in den Zellkernen, die zu Krebs führen können. Etwa jeder fünfte bösartige Tumor wird heute mit chronischen Entzündungen in Zusammenhang gebracht.

Die Neurowissenschaftler Julian Hellmann-Regen und Vera Clemens von der Berliner Charité haben herausgefunden, dass unterschwellige Entzündungen auch Depressionen auslösen können. Bislang galten hohe Entzündungswerte im Blut lediglich als eine Begleiterscheinung von therapieresistenten Depressionen. Hellmann-Regen erklärt, was dabei im Denkorgan passiert: „Die Entzündung setzt im Gehirn Botenstoffe frei, die dort eine immunologische Kettenreaktion auslösen. Wird diese nicht unterbrochen, halten sich die Entzündungsprozesse in verschiedenen Hirnregionen wie ein Pingpong-System gegenseitig in Gang.“ Um diesen sich selbst erhaltenden Entzündungsvorgang im Gehirn mancher Depressionspatienten zu unterbrechen, haben die beiden Berliner Ärzte vor Kurzem eine Studie mit dem Medikament Minocyclin gestartet. Normalerweise wird das Präparat eingesetzt, um Akne, also eine Hautentzündung, zu behandeln. Mit ersten Ergebnissen der klinischen Prüfung rechnen die Ärzte im kommenden Jahr.

Langzeitrisiko Demenz

Unabhängig vom Ausgang der Medikamentenstudie empfiehlt Hellmann-Regen: „Hausärzte und Psychiater sollten bei Patienten mit Depressionen auch die Entzündungswerte im Blut überprüfen, besonders dann, wenn herkömmliche Antidepressiva nicht anschlagen.“ Denn nicht behandelte Entzündungen im Gehirn könnten langfristig auch die Schutzmechanismen der Nervenzellen schädigen und zu degenerativen Erkrankungen wie Demenz führen.

Dass Entzündungen an verschiedenen Stellen im Körper auf ein und dasselbe Medikament ansprechen können, ist für Falk Hiepe keine Überraschung. Er ist einer der Kliniker, die in dem vor einem Jahr gestarteten Leibniz WissenschaftsCampus Chronische Entzündung in Berlin mit Wissenschaftlern aus dem Leibniz-Institut Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin und der Charité zusammenarbeiten. Im WissenschaftsCampus treffen sich regelmäßig Forscher, Ärzte und Studenten, um sich über die verschiedenen Aspekte entzündlicher Prozesse auszutauschen. Die wöchentlichen B- und T-Cell-Clubs (angelehnt an die B-Zellen und T-Zellen der Immunabwehr) sind stets gut besucht.

Hiepe ist von dem Konzept überzeugt: „Wir wollen das fachspezifische Denken auflösen und interdisziplinär herangehen. Diese wissenschaftlichen Diskussionsclubs werden die Erforschung und Behandlung chronischer Entzündungen schneller voranbringen als die bisherige Aufteilung nach Disziplinen.“ Um betroffenen Patienten rascher zu helfen, haben die Berliner ein weiteres Angebot ins Leben gerufen: das interdisziplinäre Expertennetzwerk. Hier beraten Ärzte verschiedener Fachrichtungen gemeinsam mit Patienten, die an chronischen Entzündungen leiden.

Suche nach gezielten Therapien

„Je tiefer wir in das System hineinsehen, umso komplexer sind die Zusammenhänge“, staunt Hiepe. Entzündungen in Gelenken beispielsweise könnten ganz unterschiedliche Ursachen haben und seien dann auch unterschiedlich zu behandeln. Entzündungen an ganz unterschiedlichen Orten im Körper könnten wiederum viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Neben geeigneten therapeutischen Wirkstoffen suchen Hiepe und seine Kollegen auch nach sogenannten Biomarkern, die ihnen chronische Entzündungen zuverlässig anzeigen, auch wenn diese nur lokal begrenzt an bestimmten Stellen im Körper auftreten.

Werden Entzündungen nicht behandelt, können sie durch den Körper wandern und an unterschiedlichen Stellen zutage treten. Zum Beispiel bei der Psoriasis-Arthritis. Sie beginnt meist mit einer Entzündung der Haut, der Schuppenflechte oder Psoriasis. „25 bis 30 Prozent der Psoriasis-Patienten bekommen dann als Begleiterscheinung eine Arthritis in den Gelenken“, sagt Rolf Blaga vom Psoriasis Forum Berlin. „Manchmal sind auch zuerst die Gelenke und dann die Haut betroffen.“ Wichtig sei, so Blaga, dass die Betroffenen schnell zum Arzt gingen, damit die primäre Entzündung möglichst rasch behandelt würde.

Viele Indizien deuten darauf hin, dass körpereigene Fettdepots eine wichtige Rolle bei der Entgleisung des Immunhaushalts spielen. Fettzellen setzen verschiedene Zytokine frei, die die Entzündungsreaktionen im Blut ansteigen lassen. Die Botenstoffe programmieren unter anderem die Fresszellen (Makrophagen) der Immunabwehr um. Diese senden fortan kontinuierlich Gefahrensignale ins Blut und heizen damit das Immunsystem weiter an. Menschen mit übergroßen Fettpolstern sind daher besonders prädestiniert für unterschwellige Entzündungen. In Deutschland betrifft dies mehr als die Hälfte der Frauen und Männer. Das erklärt auch, warum mit dem Übergewicht auch die Zahl der Menschen mit Typ-2-Diabetes ansteigt.

Ulmer Forscher haben jüngst im Tierversuch ein Eiweißmolekül ausfindig gemacht, das fehlprogrammierte Makrophagen im Blut wieder durch neue, intakte Fresszellen ersetzt: das Neuropeptid FF. Dieses Protein tritt bei schlanken Versuchstieren und solchen, die auf Diät gesetzt wurden, in hoher Konzentration auf. Dickere Tiere mit einem hohen Anteil an Körperfett zeigen hingegen einen deutlich niedrigeren Level an Neuropeptid FF. Verabreichten die Forscher den übergewichtigen Tieren den Eiweißstoff, bildeten diese neue intakte Fresszellen im Blut, und die Entzündungen ebbten ab.

Die Anti-Entzündungs-Diät

Weniger essen und weniger Körperfett sind daher zwei entscheidende Bausteine, um chronischen Entzündungen entgegenzuwirken. Ein anderer ist die Wahl entzündungshemmender Nahrungsmittel. Der dänische Ernährungsexperte Martin Kreutzer und seine Landsfrau, die FoodJournalistin Anne Larsen, haben in ihrem Buch „Die Anti-Entzündungs-Diät“ Speisen zusammengetragen, die das Immunsystem des Körpers positiv unterstützen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Omega-3-Fettsäuren. Sie regeln das Immunsystem auf einen gesunden Level herunter. Fetter Seefisch (Makrele, Lachs), Leinsamenöl und bestimmte Nüsse enthalten besonders viel davon.

Antioxidative Pflanzenstoffe in Gemüse und Früchten schützen Körperzellen zusätzlich vor den Folgen einer Entzündung, indem sie freie Sauerstoffradikale im Körper auffangen. Probiotische Lebensmittel wie Joghurt und fermentiertes Gemüse (Sauerkraut) wiederum unterstützen die Bakteriengemeinschaft im Darm und entlasten so das Immunsystem. Und nicht zuletzt beeinflusst Vitamin D die Immunabwehr positiv. Der Körper kann Vitamin D zwar auch selbst bilden, allerdings nur, wenn die Haut ausreichend Sonnenlicht abbekommt. Im Winter können Vitaminkapseln ein mögliches Defizit ausgleichen.

Die immunologischen Gegenspieler zu Omega-3-Fettsäuren sind Omega-6-Fettsäuren, die beispielsweise in Distel- und Sonnenblumenöl stecken. Sie heizen das Immunsystem weiter an. Entscheidend für das Wohlbefinden ist das richtige Verhältnis beider Fettkomponenten. Als optimal gilt ein Verhältnis von Omega-6/Omega-3 von 5:1. Auch Transfette, die unter anderem in frittierten Lebensmitteln stecken, wirken proinflammatorisch, also entzündungsfördernd, und sollten möglichst selten auf dem Speiseplan stehen.

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