Es scheint fast wie das Drehbuch eines Dramas, was dem Psychologen Everett Worthington passiert ist. Als Professor für Psychologie an der Virginia Commonwealth University hat er sich schon bald ein Jahrzehnt mit dem Thema der Vergebung beschäftigt, als seine Mutter 1996 bei einem Einbruch in ihr Haus ermordet wird. Ein junger Mann soll der Täter gewesen sein, doch wird er nie strafrechtlich verfolgt.
"Ich hatte das Vergebungsmodell schon oft angewandt, doch noch nie auf ein so großes Ereignis", sagte Everett Worthington gegenüber der "American Psychological Association". Aber er habe dem jungen Mann recht schnell vergeben können.
Einer so extremen Situation wie Everett Worthington werden sich die meisten Menschen glücklicherweise in ihrem Leben nicht stellen müssen. Doch wahrscheinlich kennt jeder kleine oder größere Ungerechtigkeiten, die an uns nagen. Wie der Lehrer, der einen bei der Notenvergabe verlacht hat oder die beste Freundin, die einen angelogen hat.
Seinem Gegenüber danach zu verzeihen, ist nicht immer einfach. Diese Fähigkeit will gelernt sein – und es braucht mitunter Jahre, um sie zu entwickeln: "Ich hatte einen Professor an der Uni, der mir die Note zwei gegeben hat, und ich habe zehn Jahre gebraucht, um ihm zu vergeben", schilderte Everett Worthington seine frühen Erfahrungen mit Vergebung gegenüber der "American Psychological Association".
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Vergebung als Stärke
Heute weiß er: Entgegen mancher Meinung bedeutet es nicht, schwach zu sein, wenn man Personen vergibt. Ob man jemandem vergebe, habe auch keinen Einfluss darauf, ob Gerechtigkeit ausgeübt werde, sagte Everett Worthington: "Vergebung findet in meiner eigenen Haut statt."
Wer gelernt hat, jemandem einen Fehler zu verzeihen, kann dadurch die körperliche Gesundheit und das mentale Wohlbefinden verbessern. Everett Worthington vermutet, dass der Stressabbau der wichtigste Punkt ist, der Vergebung und körperliches Wohlbefinden miteinander verbindet.
Verzeihen ist positiv für Körper und Geist
Eine Untersuchung aus dem Jahr 2020 mit Krankenpflegerinnen im Alter von 43 bis 64 Jahren konnte zeigen, dass sich jene besser fühlten, die verzeihen können. Die Forschenden haben die Daten von 54.703 Probandinnen einer Krankenpflegerinnenstudie ausgewertet, die seit 1989 in den USA läuft. Die Teilnehmenden werden alle zwei Jahre nach ihrem körperlichen und nach dem psychosozialen Befinden befragt. Die Forschenden untersuchten die Daten danach, wie sich (spirituelle) Vergebung auf eben jenes Befinden auswirkt.
Das Ergebnis: Jene Frauen, die anderen vergeben haben, hatten ein höheres psychosoziales Wohlbefinden. Ebenfalls schilderten sie eine bessere soziale Integration. Außerdem haben die vergebenden Teilnehmerinnen seltener über Angstzustände oder Depressionen geklagt.
In einer Studie aus dem Jahr 2019 haben die Psychologen Yu-Rim Lee und Robert Enright 128 Studien ausgewertet, um herauszufinden, welchen Einfluss es auf unsere körperliche Gesundheit hat, wenn uns verziehen wird oder wir jemandem verzeihen. Die Forschenden haben dazu unter anderem auf Cholesterin, Stresshormone, Bluthochdruck, Schmerzen und Autoimmunerkrankungen geblickt. Sie stellen fest, dass jene Menschen, denen nicht verziehen wird, mit gesundheitlichen Folgen rechnen müssen. Wem hingegen vergeben wird, der lebt ruhiger und gesünder.
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Wie man lernen kann, zu vergeben
Doch manchmal ist es für uns einfacher, weiter wütend zu sein. Wie also verzeihen? Der Psychologe Everett Worthington stellt ein ganzes Arbeitsbuch (auf Englisch) zur Verfügung, um zu lernen, anderen zu vergeben. Die Methode heißt REACH.
R: Recall the hurt (Erinnern Sie sich an die Verletzung)
Wer heilen will, muss sich der Tatsache stellen, verletzt worden zu sein. Wer vergeben möchte, sollte die andere Person nicht schlecht behandeln und stattdessen als wertvolle Person sehem. Schnippische Sprüche sind also Fehl am Platz. Und: Man muss sich aktiv dafür entscheiden, zu vergeben.
E: Empathie with your partner (Bringen Sie Ihrem Gegenüber Empathie entgegen)
Man sollte sich in die Lage der anderen Person hineinversetzen. Everett Worthington schlägt eine Übung vor: "Tun Sie so, als säße die andere Person Ihnen gegenüber auf einem leeren Stuhl. Sprechen Sie mit ihm. Schütten Sie Ihr Herz aus. Dann, wenn Sie alles gesagt haben, setzen Sie sich auf seinen Stuhl. Sprechen Sie mit Ihrem imaginären Ich auf eine Weise, die Ihnen hilft zu verstehen, warum die andere Person Ihnen Unrecht zugefügt haben könnte." Diese Übung helfe dabei, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen oder ihm zumindest Sympathie und Mitgefühl entgegenbringen zu können. Dies helfe dabei, sich von den Verletzungen zu erholen.
A: Altruistic Gift (altruistische Gabe)
Jedem sei schon einmal verziehen worden und jeder habe dann dieses befreiende Gefühl gespürt. Wem vergeben wurde, der möchte die Person nicht erneut enttäuschen. Vergebung kann also als ein Geschenk gesehen werden – damit sich auch das Gegenüber so leicht und frei fühlen kann.
C: Commit (Wir verpflichten uns der Vergebung)
Wer verziehen hat, sollte sich eine kleine Notiz schreiben. Etwa: "Heute habe ich [Name der Person] vergeben, dass er mich verletzt hat." Dies helfe dabei, an der Vergebung festzuhalten.
H: Hold onto forgiveness (An der Vergebung festhalten)
Hier kommt die Notiz aus dem vorherigen Schritt zum Einsatz: Es ist nicht immer leicht, bei der Vergebung zu bleiben, kommen also Gefühle des Ärgers oder Groll auf, sollte der Zettel zur Hand genommen werden. Dieser erinnere daran, dass man sich für die Vergebung entschieden habe.
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