Die Inzidenz hat heute eine andere Bedeutung als noch vor einem Jahr. RKI-Chef Lothar Wieler möchte sie dennoch als Leitindikator beibehalten. Doch das halten nicht alle für sinnvoll. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wie hohe Inzidenzen können und wollen wir uns erlauben?
Inzidenz von 800 im Herbst, 200 sind das neue 50 – kaum steigen die Corona-Zahlen in Deutschland, schon gehen die Rechenspiele los. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte zuletzt etwa die 200 als neue vertretbare Inzidenz ins Spiel gebracht. Doch in seiner Kalkulation fehlte der Effekt der Impfungen.
- Wie Spahn rechnete, analysierte Statistikerin Katharina Schüller für FOCUS Online.
Zahlenmodellierungen hin oder her – die Diskussion um die Inzidenz ist brisanter denn je. Nach dem Wert steuert Deutschland durch die Pandemie. Dass er als alleiniger Indikator wenig taugt, mahnten Experten immer wieder an. Vor kurzem hieß es dann von Seiten des Robert-Koch-Instituts (RKI): Die Situation in den Krankenhäusern sollte nun zum Leitindikator werden, die Hospitalisierungsrate mehr berücksichtigt werden. Völlig abwenden von der Inzidenz wollten sich die RKI-Fachleute jedoch nicht.
RKI will an Inzidenz als Leitindikator festhalten
Vielmehr kehren sie sich zurück zum Bekannten. „Inzidenz ist Leitindikator für Infektionsdynamik (hohe Inzidenzen haben zahlreiche Auswirkungen)“, heißt es in einem Papier, das FOCUS Online vorliegt. Die 7-Tage-Inzidenz bleibe wichtig, um die Situation in Deutschland zu bewerten und frühzeitig Maßnahmen zur Kontrolle zu initiieren.
Zur aktuellen Lage heißt es in dem Papier, dass die Inzidenzen seit rund drei Wochen wieder stiegen, der Anteil der Hospitalisierungen seit rund zwei Wochen. „Die vierte Welle hat begonnen.“
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Wie sinnvoll ist es, an diesem Inzidenz-Indikator festzuhalten?
Wenig sinnvoll ist die Inzidenz, wenn es etwa nach dem Epidemiologen Klaus Stöhr geht. Dieser kritisierte in mehreren Interviews: Der Wert allein sagt nichts darüber aus, wie bedrohlich die Corona-Pandemie in Deutschland ist.
Ähnlich sieht es der Medizinstatistiker Gerd Antes: „Die Inzidenz war noch nie ein alleiniger guter Steuerungsparameter – er war eben für die Politik sehr bequem“, sagte Antes der „Apotheken Umschau“. Aber jetzt sei es geradezu schädlich, sich alleine daran zu orientieren, um Schutzmaßnahmen zu treffen. Inzwischen sei es – durch den deutlichen Impferfolg – tatsächlich schädlich, weil die Risikoverhältnisse völlig verschoben seien und darauf beruhende Gegenmaßnahmen ernsthaft falsch sein können. „Spätestens jetzt ist es also an der Zeit, die Inzidenz von der Hospitalisierung und der Sterblichkeit zu entkoppeln“, so Antes.
Auf Konfrontationskurs mit RKI-Chef Wieler geht auch Jens Spahn. „Mit steigender Impfrate verliert die Inzidenz an Aussagekraft“, bekräftigte der Bundesgesundheitsminister vergangene Woche. Es brauche deshalb „zwingend weitere Kennzahlen, um die Lage zu bewerten“, zum Beispiel die Zahl der neu aufgenommenen Covid-19-Patienten im Krankenhaus.
Welche Inzidenzen können wir uns erlauben?
35, 50, 200 oder 800: Bleibt die Inzidenz Deutschlands Pandemie-Planer, stellt sich die Frage, welche Werte wir uns erlauben können und wollen. Die Antwort darauf ist alles andere als banal.
Sie hängt davon ab, worauf wir uns fokussieren. Gleichzeitig bräuchte es mehr Differenzierung, beispielsweise nach Altersgruppen und Regionen. Eine 7-Tage-Inzidenz von 200 wirkt sich unter jungen Erwachsenen anders aus als unter älteren Menschen. Krankenhäuser und Gesundheitsämter sind in Deutschland unterschiedlich gut für viele Corona-Fälle ausgestattet. Andreas Schuppert Die Balken zeigen, wie viel mehr Infektionen zu verkraften wären – abhängig von der Impfquote (und vereinfacht gerechnet mit einer gleichmäßigen Infektionsverteilung auf die Altersgruppen).
Ganz entscheidend auf den Faktor wirkt sich aus, wie gut der Immunschutz ist. Wenn dieser geringer ist, wie beispielsweise bei Astrazeneca-Impfungen, kommt es zu mehr Infektionen, die aber dann milde verlaufen werden. Schuppert bilanziert: „Wir können dann eine höhere Inzidenz formal verkraften, die nicht auf die Intensivstationen durchschlägt.“
Wenn Epidemiologe Reintjes auch grundsätzlich zur Vorsicht mahnt, hat er doch einen optimistischen Ausblick: „Solange wir in unserer Bevölkerung noch viele nicht-immune Personen haben, wird das pandemische Bild dieser Erkrankung vorherrschen.“ Mit jeder Impfung sowie mit jeder durchgemachten Infektion werde es für das Virus schwieriger noch empfängliche Personen zu finden und wir nähern uns einer endemischen Situation, ähnlich wie bei anderen Infektionskrankheiten. „Wir werden also auf jeden Fall zu einer Art Normalität kommen. Und das können wir durch zeitnahes Impfen sogar beschleunigen.“
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Fokus: Gesundheitsämter nicht überlasten
Impfquote und Krankenhauseinweisungen hin oder her: Jeder Corona-Fall will nachverfolgt werden. Dafür zuständig sind die Gesundheitsämter. Um sie nicht zu überlasten, kam 2020 der Wert von 50 Infizierten/100.000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen zustande.
In Gesprächen mit FOCUS Online machte die Ärzteverbandschefin Ute Teichert allerdings immer wieder deutlich: Ob ein Gesundheitsamt mit 35, 50 oder erst mit 200 überfordert ist, sei regional ganz unterschiedlich. Dazu komme: Gibt es Kontaktbeschränkungen, vereinfacht das die Nachverfolgung. Denn je weniger Kontakte eine infizierte Person hat, umso schneller sind diese erfasst.
Bleibt die Strategie, jeden Kontakt nachvollziehen zu wollen, während in Sachen Personal und Technik in den Ämtern bisher nicht die große Wende kam, wird es schwierig mit Spahns „200 ist das neue 50“. Teichert warnt: Gerade auf dem Land sei Deutschland schlecht auf eine vierte Welle vorbereitet.
Fokus: Arbeitsleben am Laufen halten
Gesundheitsminister Spahn rechnete schon mit 800er-Inzidenzen für den Herbst. Doch auch vorher kann es kritisch werden. Das zeigt der Blick nach Großbritannien. Denn Werte von 500 bedeuteten: Viele Kontaktpersonen von Infizierten mussten in Quarantäne. Das waren so viele, dass es zu Personalmangel in relevanten Branchen kam.
Darum gibt es im Vereinigten Königreich nun Ausnahmen für Supermarktmitarbeitende, Beschäftigte des Gesundheitsdiensts, Zugführer, Grenzbeamte und Feuerwehrleute. Bestimmte Kontakte müssen nicht mehr in Quarantäne, sondern zum Test.
Fokus: Öffentliches Leben mit Großveranstaltungen ermöglichen
Zur von vielen herbeigesehnten Normalität gehören auch Großveranstaltungen wie Fußballspiel und Festivals. Dass diese allerdings auch bei niedrigen Inzidenzen problematisch sein können, zeigt das Beispiel eines Openair-Events in den Niederlanden. Mehr als 1000 Infizierte gab nach der Veranstaltung Anfang Juli. Seit Ende Juni galt das Nachbarland nicht mehr als Risikoland. Die 7-Tage-Inzidenz lag zu diesem Zeitpunkt bei etwa 24. „Die Erfahrungen aus den Niederlanden zeigen uns sehr deutlich, wie fragil die Situation ist“, sagt Epidemiologe Ralf Reintjes FOCUS Online zum Superspreader-Event.
Je mehr Veranstaltungen dieser Art es gibt und je mehr Menschen gemeinsam feiern, umso wahrscheinlicher entstehen neue Corona-Cluster. Darum warnte Epidemiologe Reintjes: „Wenn man eine große Anzahl Menschen, von denen einige vermutlich infektiös sind, zusammenbringt, werden wir gehäuft Ausbrüche sehen, die dann schnell das Infektionsgeschehen in der gesamten Gesellschaft stark verändern können.“
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Fazit: Je nachdem, auf welchen Bereich sich Deutschland konzentriert, können wir uns Inzidenzen von 200 erlauben – oder auch nicht. In Vorbereitung auf den Herbst bleibt viel zu diskutieren. Es sind ethische, politische, ökonomische Fragen. Denn sicher ist: Die Infektionszahlen werden in der kühlen Jahreszeit steigen. Welche Konzepte etwa Schulen offenhalten können, welche Inzidenzen dort akzeptabel sind, unter welchen Bedingungen Kinos und Restaurants ihren Betrieb weiterführen können – all das gilt es jetzt zu definieren.
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