Gesundheit

Chefarzt spricht Klartext zu Corona-Maßnahmen, Impfung und Masken

Die Sommerwelle rauscht durch Deutschland – wird es wieder ein Herbst voller Einschränkungen? Chefarzt Markus Unnewehr aus Hamm fordert ein Umdenken: Viele Maßnahmen seien im Klinikalltag eher hinderlich und die aktuelle Welle nicht mit früheren vergleichbar.

Während im Sommer 2021 fast keine Infektionen registriert wurden und auch wenige Menschen an Covid-19 erkrankten, wird Deutschland in diesem Sommer von einer heftigen Welle erfasst. Was bedeutet das für den Herbst? Dr. Markus Unnewehr, Chefarzt der Pneumologie und Infektiologie an der St.-Barbara-Klinik in Hamm, berichtet im Interview mit FOCUS Online über die aktuellen Herausforderungen, die Covid-19 und die Maßnahmen für den Klinikalltag bedeuten. Seiner Beobachtung nach hat sich die Erkrankung komplett verändert – und gefährdet derzeit vor allem eine ganz bestimmte Personengruppe.

FOCUS Online: Herr Unnewehr, wie hat Omikron die Bedeutung von Covid-19 im Krankenhaus-Alltag verändert?

Markus Unnewehr: Seit einigen Monaten muss man feststellen, dass mit Omikron die Sterblichkeit sogar unterhalb die einer Influenza-Erkrankung gesunken ist. Erhebungen dazu sind natürlich schwierig, denn die Zahl von Influenza-Toten wurde letzten Endes immer nur geschätzt. Doch wenn ich aus meiner klinischen Erfahrung die Situation bewerte, dann komme ich zu diesem Schluss.

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„Nicht mehr die Patienten, die wir noch 2020/21 hatten“

Die Krankheit hat sich komplett verändert. Wir haben jetzt in der Klinik nicht mehr die 60-jährigen Frauen oder Männer mit Lungenentzündung und keine 70-Jährigen mehr, die sonst gesund sind, wegen einer Covid-Erkrankung aber drei Wochen im Krankenhaus liegen. Fast keine Patienten benötigen noch Sauerstoff. Covid-19 ist heute im Wesentlichen ein oberer Atemwegsinfekt, der immer noch zu subjektiv schweren Symptomen führen kann. Wir sehen aber im Krankenhaus nicht mehr die Patienten, wie wir sie noch 2020/21 hatten.

Sie sagen sogar, man sollte die Krankheit eigentlich umbenennen?

Unnewehr: Ja, denn sie ist mit dem, was wir von den ersten, viel schlimmeren Wellen kennen, klinisch und epidemiologisch nicht mehr vergleichbar. Zum einen haben die Impfungen dazu beigetragen. Zum anderen der kontinuierliche Kontakt mit dem Virus, also die sogenannte „Durchseuchung“. Man könnte das mit Antikörper-Studien messen, die leider in Deutschland nicht durchgeführt wurden; ein Versäumnis, das auch der Corona-Sachverständigenrat in seiner Maßnahmen-Evaluierung kritisiert hat. Daten aus anderen Ländern, etwa Großbritannien, legen aber eine weitgehende Durchseuchung nahe. St.-Barbara-Klinik Hamm Dr. Markus Unnewehr, Chefarzt der Pneumologie und Infektiologie an der St.-Barbara-Klinik in Hamm

Covid-19 ist oft ein „Nebenbefund“

Viele Patienten, die positiv getestet werden, haben gar keine Symptome mehr. Das bedeutet, dass im Klinikalltag häufig Covid-19 nur ein Nebenbefund ist. Die Menschen sind wegen etwas ganz anderem bei uns, zählen dann aber wegen des Befundes als Covid-Patienten.

Das heißt auch, dass es viel weniger Todesfälle gibt?

Unnewehr: Wir hatten in den ersten Wellen in der Stadt Hamm rund 280 Todesfälle, seit einigen Monaten waren es vielleicht noch 10. Die Patienten, die heute noch an dieser Erkrankung sterben, sind fast immer schwer immunsupprimiert, haben also ein stark geschwächtes Immunsystem – zum Beispiel, weil sie an Leukämie erkrankt sind. Diese Menschen haben auch untypische Omikron-Verläufe.

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Wie bewerten sie aus klinischer Sicht den Einfluss, den die Impfungen derzeit haben?

Unnewehr: Meiner Beobachtung nach hat es auf den Verlauf einer Omikron-Erkrankung keinen Einfluss, ob jemand geimpft ist oder nicht. Das war in den ersten Wellen, vor allem bei Delta, noch ganz anders. Dort waren tatsächlich die schwer Erkrankten auf Intensivstation meist diejenigen ohne Impfschutz.

Impfungen machen bei Omikron keinen Unterschied

Wie sieht es mit Long Covid aus? Die Beurteilung zur Bedeutung dieser Langzeitfolgen geht ja weit auseinander.

Unnewehr: Long Covid ist etwas, das wir durchaus sehen und das man sich genau anschauen muss. Allerdings darf man nicht vergessen: Dass Viruserkrankungen noch Wochen oder Monate nach einer Infektion Probleme verursachen können, kennen wir auch von Influenza und anderen Viren; früher standen solche Komplikationen nur nicht so im Fokus.

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Sie haben in einem Aufruf an Kollegen und Mediziner-Verbände beschrieben, dass mittlerweile die Maßnahmen gegen Corona im Krankenhausalltag zu größeren Problemen führen würden als das Virus selbst. Was bedeutet das genau?

Unnewehr: Viele Auflagen behindern den Klinikalltag erheblich. Das anlasslose Testen kostet Zeit, Verlegungen oder Entlassungen werden erschwert, Operationen müssen verschoben werden. Gleichzeitig kommt es zu zahlreichen Ausfällen beim Personal, auch wegen der Quarantäne-Regeln. Das alles führt zu erheblichen organisatorischen Problemen. Wir arbeiten noch mit Maßnahmen, die auf dem Stand 2020/21 sind – auf diesem Stand ist Covid-19 aber eben nicht mehr.

Das Gesundheitsministerium und viele Politiker fordern die Rückkehr der Maskenpflicht im Herbst. Tatsächlich hat der Corona-Sachverständigenrat die Maskenpflicht als eine der wenigen Maßnahmen ermittelt, deren Nutzen weitgehend belegt sei. Es mehren sich allerdings Experten-Stimmen, die auf mögliche Nebenwirkungen der Maskenpflicht hinweisen, zuletzt der Hausärzteverband im Saarland: Sie befürchten eine Schwächung des Immunsystems. Wie schätzen Sie das ein?

Unnewehr: Masken, wenn sie gut aufgesetzt werden, sind sinnvoll. Aber wer macht das in der Realität noch? Wenn ich mit der Bahn fahre, sehe ich viele Menschen, die die Maske nicht richtig tragen. Und eine FFP2-Maske hat einen so hohen Atemwegswiderstand, dass man sie kaum dauerhaft dicht tragen kann und sie meiner Ansicht nach nur bei besonders gefährdeten Patienten anwenden sollte. Man suggeriert den Menschen sonst eine falsche Sicherheit.

Die zwei Seiten der Maske: Effektiv, aber auch unerwünschte Nebeneffekte

Was uns im Klinikalltag aufgefallen ist, ist folgendes: Wir hatten im Sommer 2021 eine untypische Häufung von Atemwegsinfekten wie den RS-Viren, gerade bei Kindern. Wir sehen untypische Erkrankungen zu untypischen Zeiten und mit untypischer Schwere. Ich glaube, wir werden die Viren mit Masken nicht überlisten können – und sind möglicherweise schlechter auf die nächste Influenza-Welle vorbereitet.

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„Natürlich müssen wir die Situation beobachten“

Wir müssen uns ja immer fragen: Was ist das Ziel unsere Maßnahmen? Die Krankheitsvermeidung? Bisher lief die Entwicklung des Virus immer wie erwartet: Es wurde ansteckender, aber weniger gefährlich. Die Sommerwelle läuft jetzt durch und könnte helfen, Infektionen zu „strecken“. Wir müssen ja auch registrieren, wie man in anderen Ländern damit umgeht. Dort sind viele der Maßnahmen, die wir noch haben oder bald wieder einführen wollen, seit Monaten nicht mehr üblich. Das gilt auch für die Maskenpflicht. Bei besonders gefährdeten Patienten oder bestimmten Situationen wird man die Maske weiter anwenden – das haben wir in der Klinik aber ja auch vor Corona schon gemacht.

Gehen wir einmal hypothetisch davon aus, man würde morgen die Corona-Testungen sofort einstellen. Würden Sie von der Pandemie im Krankenhausalltag noch etwas merken?

Unnewehr: In der gegenwärtigen Situation würden wir wahrscheinlich eine schwere Sommergrippe registrieren, nicht mehr und nicht weniger, allerdings mit wenig Relevanz für die Krankenhäuser. Natürlich müssen wir die Situation trotzdem beobachten. Wenn wir zum Beispiel im September plötzlich sähen, dass wieder die 60-Jährigen mit schweren Symptomen bei uns in der Klinik landen, müsste man die Situation neu bewerten.

Zur Person: Dr. Markus Unnewehr (Jahrgang 1975) ist seit 2019 Chefarzt der Pneumologie und Infektiologie in der St. Barbara-Klinik Hamm. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie, Infektiologie und Notfallmedizin.

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