Gesundheit

Medizin ist männlich: "Bei den Corona-Impfungen betreffen 90 Prozent der allergischen Reaktionen Frauen"

Wann genau Gott die Sache aus dem Ruder lief, ist leider nicht überliefert. Aus einer Rippe des Mannes hatte er die Frau erschaffen. Dann aß sie von der verbotenen Frucht und wurde prompt vom Herrn dazu verdonnert, fortan unter Schmerzen zu gebären. Und weil das offenbar nicht reichte, schuf Gott noch die Heilkunst und befahl den Gelehrten und Praktikern, die Bedürfnisse der Frau immer mal wieder gepflegt zu ignorieren.

Der Mann ist das Maß der Dinge

In der Medizin ist bis heute meist der Mann der Prototyp. Auf ihn beziehen sich oft die Beschreibungen von Krankheitssymptomen. Etwa beim Herzinfarkt: Den erkennt man an Schmerzen in der Brust und Schmerzen, die in den linken Arm ausstrahlen. Das stimmt auch, gilt aber typischerweise vor allem für Männer.

Bei Frauen können dagegen andere Indizien auf einen Infarkt hinweisen: Erschöpfung, starkes Unwohlsein, Luftnot, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Kurzatmigkeit, Schmerzen in Nacken, Kiefer, Rücken oder Oberbauch, Schmerzen oder Druck in der Brust – auf der linken oder rechten Seite.

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Der Herzinfarkt ist nur ein Beispiel von vielen, die deutlich machen, welche Unwucht es im Medizinsystem noch immer gibt: Der Mann ist das Maß aller Dinge. Das zeigt sich bereits in den Lehrbüchern, bei der Beschreibung von Krankheiten, in Diagnostik und Therapie. Auch die medizinische Forschung orientiert sich am Mann – häufig erarbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Erkenntnisse vornehmlich an männlichen Zellen, männlichen Versuchstieren, männlichen Probanden.

"Jahrzehntelang hat man Patientinnen behandelt wie eine Art kleinere Männer. Und das kann in der Medizin immer wieder fatale Folgen haben", sagt Vera Regitz-Zagrosek, Kardiologin und ab 2008 Leiterin des deutschlandweit ersten Instituts für Gendermedizin, das an der Berliner Charité gegründet wurde.

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So gilt der Herzinfarkt fälschlicherweise als Männerkrankheit, obwohl Frauen ihn genauso häufig erleiden – allerdings eher in einem höheren Lebensalter. Nach einem Infarkt aber versterben jüngere Frauen in Europa und in den USA sogar häufiger als Männer.

Ein Grund ist, dass Frauen ihr Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen unterschätzen. Sie ordnen ihre Beschwerden oft nicht richtig ein oder beißen die Zähne zusammen. Und sie werden in ihrer Not häufig von Familie, Freunden, Arbeitskollegen nicht richtig eingeschätzt: Wissenschaftliche Untersuchungen kamen zu dem Schluss, dass Herzinfarkt-Patientinnen nach Beginn der Symptome etwa eine Stunde später als betroffene Männer in die Notaufnahme kamen.

Auch dort dominiert bei Ärzten und Pflegekräften häufig der "männliche Blick", und dem kann manches entgehen. Denn die Beschwerden der Patientinnen sind nicht so "typisch", wie in der klassischen Ausbildung gelehrt wurde. Häufig schildern Frauen ihre Beschwerden auch anders als Männer – ausführlicher, aber vielleicht weniger eindringlich.

Trifft eine Frau mit Herz-Kreislauf-Beschwerden auf einen männlichen Arzt, wird sie mit höherer Wahrscheinlichkeit schlechter versorgt als ein Mann – das zeigen schwedische und auch deutsche Forschungsarbeiten. Eine US-Studie wies nach, dass in solch einem Setting die Sterblichkeit von Herzinfarkt-Patientinnen höher ist.

Eine gendergerechte Ansprache ist anscheinend notwendig

Kritiker monieren oft, dass hierzulande generell zu viele Herzkatheteruntersuchungen durchgeführt werden. Fest steht aber: Frauen werden in dem Bereich auch bei eigentlich notwendigen Eingriffen seltener als Männer optimal versorgt.

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Dass die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek zu einer Vorreiterin für geschlechtersensible Medizin wurde, gründete sich auf ihrer früheren Tätigkeit als Ärztin in einem Herzzentrum. Dort bemerkte sie: Frauen hatten immer wieder mehr Verständnisfragen zu Therapien und Medikamenten als Männer. Sie erschienen nicht zu Kontrollterminen. Oder sie entschieden sich gegen eigentlich notwendige Eingriffe.

Die Ärztin schlussfolgerte: Offensichtlich funktionierte die Ansprache durch die vornehmlich männlichen Mediziner nicht richtig. Und Vera Regitz-Zagrosek fragte sich: Sollte das Problem im System stecken? Müssten Ärztinnen und Ärzte mit Männern und Frauen vielleicht auf unterschiedliche Weise sprechen, um die geplanten Therapien gut zu erklären? Seitdem ist die Forscherin auf der Suche nach Antworten. Und davon profitierten ihre Studierenden: Das Thema geschlechtssensible Medizin ist an der Charité, an der Regitz-Zagrosek bis 2019 den Lehrstuhl für Gendermedizin innehatte, ein Pflichtfach.

Geschlechtersensible Medizin: wichtiges Forschungsinteresse

Die angehenden Medizinerinnen und Mediziner sollen von Anfang an auf die Zusammenhänge aufmerksam gemacht werden und lernen zu differenzieren. Dabei geht es nicht nur um die Biologie von Mann und Frau, um X- und Y-Chromosomen, anatomische, zelluläre, physiologische und hormonelle Verschiedenheiten. Es geht auch um soziale und gesellschaftlich geprägte Unterschiede, Verhaltensweisen, Kommunikationsstile, erlernte Rollenbilder und Stereotype.

Anfangs wurden Regitz-Zagrosek und ihre Mitstreiterinnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz von anderen Medizinern skeptisch beäugt, teils belächelt. Als sei geschlechtersensible Medizin eine Art Spleen. Das hat sich verändert. 2018 wurde Vera Regitz-Zagrosek für ihre Arbeit das Bundesverdienstkreuz verliehen.

"Früher saßen im Publikum bei unseren Veranstaltungen 95 Prozent Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen. Inzwischen nehmen immer mehr Männer teil", sagt Sabine Oertelt-Prigione, Professorin für geschlechtersensible Medizin an der niederländischen Universität Radboud in Nijmegen und an der zurzeit im Aufbau befindlichen medizinischen Fakultät in Bielefeld.

"Heute ist klar: Das ist ein wichtiges Forschungsinteresse – und kein Privatvergnügen einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler." Sabine Oertelt-Prigione möchte, dass es irgendwann selbstverständlich wird, das Thema Geschlecht bei der Forschung, Diagnostik, Therapie und Lehre mitzudenken. "Unser Ziel ist, dass diese Erkenntnisse auch in die medizinischen Leitlinien aufgenommen werden."

Auch Männer profitieren

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Wie unterschiedlich Mann und Frau erkranken können, hat zuletzt die Corona-Pandemie gezeigt. Bereits während der ersten Welle erlitten Männer häufiger schwerere Covid-19-Verläufe als Frauen. Sie mussten häufiger in Kliniken aufgenommen und auf Intensivstationen behandelt werden. Und sie starben auch häufiger an der Viruserkrankung.

So verwundert es nicht, wenn die Expertinnen betonen, dass geschlechtersensible Medizin keineswegs nur den Frauen nützt. "Gendermedizin hat nichts mit Feminismus zu tun. Das wäre ein komplettes Missverständnis. Wir wollen mit unserer Forschung die Medizin für beide Geschlechter verbessern", schreibt Regitz-Zagrosek mit Co-Autorin Stefanie Schmid-Altringer in ihrem Buch "Gendermedizin"*.

Denn auch Männer leiden unter einem eingeengten Blickwinkel auf den Menschen und seine Krankheiten: Depression und Osteoporose gelten als typische Frauenerkrankungen und werden bei Männern oft unterschätzt oder nicht richtig diagnostiziert. Sabine Oertelt-Prigione nennt die Zahlen: "30 bis 40 Prozent der Männer über 70 Jahre haben Osteoporose. Oft wird das leider übersehen, weil die Ärzte und Ärztinnen es oft nicht untersuchen. Dann wird es erst bemerkt, wenn die Männer mit einem Knochenbruch im Krankenhaus liegen."

Bei Frauen wird häufiger eine psychische Erkrankung vermutet

Die psychische Verfassung eines Menschen scheint noch immer zu vielen Missverständnissen und Fehldeutungen zu verleiten: Während bei Männern vermehrte Wut und Aggression häufig nicht als mögliche Zeichen einer Depression erkannt werden, wird Frauen oftmals bedeutet, hinter ihren körperlichen Beschwerden könnten auch psychische Ursachen oder Stress stecken. Ärzte und Ärztinnen verschreiben Frauen zwei- bis dreimal so häufig Psychopharmaka wie Männern.

Ganz anders dagegen die Praxis bei der Erforschung neuer Arzneimittel. An den dafür erforderlichen Studien nehmen noch immer vornehmlich Männer teil. Ein Grund ist der Contergan-Skandal in den 1950er und 1960er Jahren, bei dem Schwangere das Schlafmittel eingenommen hatten und die Kinder im Leib der Mutter geschädigt wurden.

In der Folge waren Frauen längere Zeit aus Arzneimittelstudien ausgeschlossen. So sollte das ungeborene Leben geschützt werden. Zudem gilt Forschung an weiblichen Versuchstieren und Frauen als komplizierter – wegen der weiblichen Geschlechtshormone und Zyklusschwankungen.

Geschlechterspezifische Daten wären vorhanden

Inzwischen aber kann die Europäische Arzneimittelagentur von den Herstellern einfordern, Wirkung und Nebenwirkungen eines Wirkstoffs geschlechtsspezifisch zu untersuchen und auszuweisen. "Aber das sind lediglich relativ unverbindliche Kann- und Soll-Vorschriften", sagt Regitz-Zagrosek.

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Tatsächlich werden diese entscheidenden Parameter bislang nur bei 15 Prozent der Arzneimittelzulassungsstudien für Geschlechter getrennt dargestellt. Bei Studien zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren nur 12 Prozent nach Geschlechtern aufgeschlüsselt, wie eine wissenschaftliche Untersuchung von Regitz-Zagrosek 2018 ergab. "Dabei wären die Daten bei allen Studien theoretisch vorhanden gewesen", sagt die Forscherin, "man hat sie aber nicht dahingehend analysiert. Man muss diese Aufschlüsselung einfordern, das ist ein politisches und gesamtgesellschaftliches Thema. Es ist eine Frage der Kultur, ob es einem das wert ist."

Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass Frauen bei der Verwendung von Medikamenten fast doppelt so häufig wie Männer an unerwünschten Nebenwirkungen leiden. Frauen haben weniger Muskelmasse, mehr Fettgewebe, eine geringere Nierenfunktion, unterschiedlich aktive Enzyme. Zudem arbeitet der weibliche Verdauungstrakt langsamer, Medikamente brauchen einige Stunden länger, um ihn zu passieren.

Wirkstoffe, die heute gängig sind, wurden in der Vergangenheit vor allem an Männern getestet. Mit unangenehmen Folgen: In den USA fiel vor ein paar Jahren bei einigen Frauen, die in Verkehrsunfälle verwickelt waren, auf, dass das an einem bestimmten Schlafmittel lag, das sie am Vortag genommen hatten. Es wirkte bei Frauen stärker als bei Männern. Der Hersteller musste daraufhin im Beipackzettel die Dosis für Frauen um die Hälfte reduzieren.

Auch bei Impfungen haben Frauen stärkere Nebenwirkungen

Auch das Immunsystem ist geschlechtsspezifisch ausgerichtet und verhält sich bei Frauen häufig sensibler. "Frauen reagieren beispielsweise stärker auf Impfungen, auch bei Grippe- und Masernimpfungen", sagt Regitz-Zagrosek. In vielen Impfstoffstudien aber würden die unerwünschten Wirkungen nicht geschlechtsspezifisch untersucht. "Bei den Corona-Impfungen betreffen 90 Prozent der allergischen Reaktionen Frauen", sagt Regitz-Zagrosek. Bereits seit 10 bis 15 Jahren beschäftigen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit der Frage, ob man Impfdosen anpassen müsste. Die Mühlen der Forschung mahlen mitunter langsam.

Was auch daran liegen könnte, wer auf welchem Posten sitzt. Ein Zahlenspiel: Etwa zwei Drittel der Medizinstudierenden sind hierzulande Frauen. Bei den Oberärztinnen waren es bei einer Untersuchung 2015/2016 nur noch 31 Prozent. Laut einer Analyse des Deutschen Ärztinnenbundes von 2019 in 15 untersuchten Fachgebieten liegt der Anteil der Lehrstuhlinhaberinnen oder Klinikdirektorinnen bei 13 Prozent.

Fazit der Ärztinnenbund-Untersuchung: "Aktuell wird durch die Besetzung von 87 Prozent der Führungspositionen durch Männer die klinische universitäre Medizin von Männern geprägt. In diesen Führungspositionen werden therapeutische Konzepte, medizinische Meinungsbildung, Strategien in der studentischen Lehre, Personalpolitik (…) gestaltet". Letzter, ernüchternder Satz der Zusammenfassung: "Bis zum Erreichen von Parität wird es bei unverändertem Tempo voraussichtlich noch 32 Jahre dauern." Am Ende ist eine kleine Zeichnung zu sehen. Sie zeigt eine Schnecke.

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