Es fühlt sich an wie ein riesiges Sozialexperiment – und wir alle sind die Probanden: Hunderte Millionen von Menschen in Deutschland, in Europa, in der ganzen Welt sind mehr oder weniger dazu verdammt, allein in ihren Häusern zu bleiben. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen und zu verlangsamen, soll man die eigenen vier Wände so selten wie möglich verlassen und auf direkte soziale Kontakte außerhalb des eigenen Haushalts verzichten. Zunächst waren das nur Empfehlungen, mittlerweile sind es „Regeln“, wie auch Bundeskanzlerin Angela Merkel klarstellte: Neben Deutschland haben auch viele andere Länder strikte Ausgangsbeschränkungen erlassen.
Psychologie
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Für die allermeisten Menschen verändert sich das Leben damit radikal. Keine Veranstaltungen mehr, keine Termine, keine Treffen mit Freunden, viele arbeiten aus dem Homeoffice und sehen auch ihre Kollegen nicht mehr. Stattdessen: viel Ruhe, viel Zeit, viel Alleinsein. Wie man damit umgeht, hängt auch stark von der eigenen Persönlichkeit ab. Besonders wichtig ist dabei die Frage, ob jemand von seiner Veranlagung her eher introvertiert oder extrovertiert ist.
Introvertierte brauchen die Ruhe, Extrovertierte lieben Action
Fast genau ein ganzes Jahrhundert ist es her, dass der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung diese Unterscheidung in der Psychologie einführte. Die beiden Begriffe bezeichnen gegensätzliche Wesensarten der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens. Introvertierte Menschen sind häufig still und zurückhaltend, sie beobachten oft lieber als zu agieren. Vor allem aber legen sie großen Wert auf ihr Innenleben: Sie lesen gern, denken viel nach, reflektieren sich und ihre Umwelt. Die Interaktion mit anderen Menschen wird für sie schnell anstrengend, Introvertierte brauchen die Stille, um ihren Akku wieder aufzuladen.
Extrovertierte hingegen ziehen ihre Energie vorrangig aus der Gegenwart anderer Menschen: Sie lieben große Gruppen, stehen gern im Mittelpunkt, haben oft ein hohes Mitteilungsbedürfnis und sind sehr aktiv. So ziehen Extrovertierte von Natur aus schneller die Aufmerksamkeit der Umwelt auf sich. Dieses Persönlichkeitsprofil gilt in der Gesellschaft oft als erstrebenswert: Die Autorin Susan Cain, die den Bestseller „Quiet“ (deutscher Titel: „Still“) zu dem Thema geschrieben hat, spricht von einem „extrovertierten Ideal“ – vor allem in den USA, aber auch in weiten Teilen der übrigen westlichen Welt.
Introversion werde dagegen oft als „Charakterzug zweiter Klasse“ behandelt, „irgendwo zwischen Enttäuschung und Krankheit“, schreibt Cain. Introvertierte hätten oft das Gefühl, sie müssten von dieser Eigenschaft geheilt werden. Nun aber, inmitten der erzwungenen sozialen Isolation, wendet sich das Blatt: Es schlägt die Stunde der Introvertierten.
Soziale Isolation: Introvertierte im Vorteil
Die dürften nämlich deutlich besser mit der Situation zurechtkommen als Extrovertierte. „Dafür habe ich mein ganzes Leben lang trainiert“, schreiben Menschen, die schon immer gern viel Zeit in ihren eigenen vier Wänden verbracht haben, auf Twitter. Für Introvertierte fühle sich diese Entschleunigung zunächst einmal gut an, bestätigt auch Coachin und Autorin Sylvia Löhken, die mehrere Bücher zu dem Thema verfasst hat. Der latente soziale Druck, sich ständig mit anderen Menschen zu treffen oder an Events teilzunehmen, fällt weg. Das „FOMO“-Phänomen, also die ständige Angst, etwas zu verpassen („Fear of missing out“), erledigt sich in diesen Tagen von selbst.
Doch die soziale Isolation angesichts der Corona-Krise hat auch Schattenseiten, sagt Löhken auf stern-Anfrage. „Introvertierte neigen zur Sicherheit. Diese Situation ist aber komplett unsicher, niemand weiß, wie es weitergeht.“ So kann es schnell passieren, dass bei dieser Gruppe die Angst vor dem Coronavirus und seinen Folgen überhand nimmt. Als zweites Problem sieht Löhken die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten, zum Beispiel innerhalb von Familien, die nun viel Zeit auf engem Raum miteinander verbringen: „Das Alleinsein ist eigentlich eine Fiktion, die Leute hängen sich auf der Pelle.“ Möglichkeiten, um zur Ruhe zu kommen, gibt es da kaum.
Löhken rät in solchen Fällen, vor allem die Eins-zu-Eins-Kommunikation zu suchen – das liegt Introvertierten ohnehin eher als das Reden in der Gruppe. „Sie sollten systematisch überlegen: Wo kann ich Hilfe bekommen und Risiken vermeiden? Wo ist meine Sicherheit?“ Das ist bei Introvertierten meist nicht die Vielzahl sozialer Kontakte, sondern die intensive Beziehung zu wenigen Vertrauten, die über lange Zeit gewachsen ist.
Extrovertierten fehlt die Kommunikation – aber es gibt Alternativen
Für Extrovertierte kann die Zeit der sozialen Isolation wohl gar nicht schnell genug enden. „Für sie ist es ein Horror, in die Stimulationsarmut zu gehen“, sagt Expertin Löhken. „Es ist eine harte Situation.“ Für Menschen, die normalerweise stark auf Reize von außen angewiesen sind, wächst die Gefahr, beim Social Distancing zu vereinsamen. Sie müssen sich andere Wege suchen, um Energie zu tanken.
Coronavirus
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„Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation“, rät Sylvia Löhken ihnen. Glücklicherweise ist das vielzitierte „Kontaktverbot“ nicht wörtlich gemeint – neben den nun untersagten physischen Kontakten gibt es digital verschiedene Möglichkeiten, trotzdem die Kommunikation mit anderen Menschen aufrechtzuerhalten. Dafür eignen sich Social-Media-Plattformen ebenso wie Videokonferenzen, während Introvertierte sich lieber schriftlich austauschen. Generell sei Mediennutzung ein Weg, sich abzulenken und der Langeweile zu entfliehen – zum Beispiel durch Serienschauen.
Für alle ist die Situation komplett neu. Und auch wenn die soziale Isolation Introvertierten von Natur aus mehr zu liegen scheint: Der Rückzug ist in diesem Fall nicht selbst gewählt, sondern von außen auferlegt. Und niemand weiß, wie lange er dauert. Auch der introvertierteste Mensch dürfte nach einiger Zeit einen Koller erleiden. Und möglicherweise lernt auch manch Extrovertierter die Ruhe zu schätzen. Wahrscheinlich wissen wir alle am Ende dieser Zeit eine Menge über uns selbst.
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